Klemperer, Viktor
44 steht ein Artikel von Dr. * Peter von Werder, die Selbstanzeige oder das Résumé seines demnächst in Leipzig erscheinenden Buches: Die Landflucht als seelische Wirklichkeit. Gedanklich u. sprachlich gleich interessantes Dokument der LTI. Bisher habe man die Abwanderung vom Lande aus einzelnen materiellen Mängeln erklärt. Jetzt treibe man ‹Landvolkspsychologie›. Der Mensch ist uns heute nicht mehr bloß ein Wirtschaftswesen, das für sich allein be steht, sondern ein Wesen aus Leib u. Seele, das einem Volke angehört u. als Träger bestimter rassenseelischer Anlagen handelt. Man müsse also wirklichkeitsnahe Einsicht in den wahren Charakter der Landflucht gewinnen. Die moderne Civilisation mit der ihr eigenen extremen Vorherrschaft des Verstandes u. der Bewußtheit schädige, zerstöre die ursprünglich in sich geschlossene Lebensform des ländlichen Menschen, deren natürliche Grundlage nun einmal in Instinkt u. Gefühl, im Ursprünglichen u. Unbewußten beruht. Drei Gründe zerstören die Bodentreue des ländlichen Menschen . 1) die Mechanisierung der ländlichen Arbeit u. die Materialisierung, d.h., die radikale Verwirtschaftlichung ihrer Erzeugnisse[]. 2) Die Isolierung u. das Absterben des Brauchtums u. der ländlichen Sitte[]. 3) Die Versachlichung u. nüchterne Verstädterung des socialen Lebens auf dem Lande. (2. u. 3. sind dasselbe! 1 ist die notwendige Organisation u. Amerikanisierung, durch den Krieg aufs Extrem gebracht!) Was kann man dagegen tun? Materielle Hilfe wird oft u. zu großen Teilen vordergründig bleiben. Seelische Heilmittel müssen heran, organische Volkskultur muß getrieben werden. Und zwar Volkslied, Volksspiel, Brauchtum, ländliche Sitte, handwerkliche oder bauliche Kultur ... Aber auch die modernen Kulturmittel etwa des Films u. des Rundfunks vermögen, falls man die Elemente der inneren Verstädterung bei ihnen ausschaltet, an der Heilung jener psychologischen Mangelkrankheit mitzuhelfen, als die man die Landflucht bezeichnen muß, wenn man sie als seelische Wirklichkeit ernst nimmt. – Beachte hierbei: 1) Die überbetonte Richtung auf Gefühl u. Seele, dazu ihre Verlogenheit, da es sich ja doch um das rein Materielle des ‹wir brauchen Landarbeiter!› handelt. 2) Die Spannung zwischen Traditionalismus u. Amerikanismus, zwischen * Rousseauismus u. Amerikanismus. Wo bleibt der ersehnte bodentreue einstige Landmann, wenn das organisierte Landvolk vorschriftsmäßig abliefern muß? Das ist die gleiche Klemme wie oben (26/XI. Artikel * Brunner- * Frank) zwischen Collektivismus u. Individualismus. (Wieder verweise ich auf die folgende * Paul Ernst-Notiz, auf das Thema von der gesunden Frau). – * Eva erinnert eben an dies Faktum: sie gab, im Anfang der zwanziger Jahre, unserer * Olympia, 1 der Schwarzwälder Bauerntochter mit dem Goldkneifer, die * Björnsonschen Bauerngeschichten zu lesen. Olympia fand kein Gefallen daran: das interessiere sie nicht, das kenne sie von allein!
Dienstag gegen Abend 28/XI 44 .
* Stühler ist sehr schwer krank – ich mache mir Vorwürfe dies wieder kalt als Sensation zu betrachten u. mit einem Teil meines Wesens zu wünschen, daß er der Vierziger von mir überlebt werde; die Sensation ist durch Angst gewürzt, denn eine Schwägerin der * Frau Cohn, zum Begräbnis hier, ist heute Nacht ihrerseits erkrankt u. in elendem Zustand am Morgen abgereist, da sie zuhaus in Plauen einen Arzt bekomt, hier aber kaum – u. die Folge von Stühlers Krankheit ist, das * Katz 2 x täglich bei ihm u. bei uns ist. Gestern Abend sprach er lange über fraglose Rassen-oder Stamesmerkmale aller Juden, was also doch die * Hitlerthese bestätigen würde, sodann über die wirkliche Judenherrschaft, die es tatsächlich in Ungarn gegeben habe – seine Stiefmutter war ungarische Jüdin, er selber ist als junger Arzt in Wien gewesen. Bei alledem ist er selber deutscher Nationalist u. stolz auf seinen deutschen Offiziersrang u. sucht immerfort bei den Ariern u. gar bei der Gestapo moralische Eroberungen zu machen. –
Gertrud Schmidt ( * Ahrens) erzählte E., sie bringe jetzt ihre gesamelten Zeitungen in Sicherheit, denn es sei neuerdings verboten, alte Kriegsberichte zu sameln!
Es erscheint jetzt in Sigmaringen als Blatt der legitimen * Pétain-Regierung La France , Journal quotidien. 1 E. brachte mir die Nummer vom 16. XI mit. Hauptinhalte: * Marcel Déat: ‹Tous› des traîtres 2 . Die Franzosen in Deutschland hätten im August geglaubt, bald in ein
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