Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Klemperer, Viktor

Klemperer, Viktor

Titel: Klemperer, Viktor Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Die Tagebücher
Vom Netzwerk:
eine Hoffnung darin? Kaum – denn es waren drei Jahre nötig, ehe die Bomber so große Wirkung erzielen konnten, u. eine Entscheidung haben sie noch immer nicht gebracht.
     

 
    Montag Morgen (u. später – ich werde wohl tagüber mit Notizen zu tun haben) 18. Dezember 44
     
    Am Sonnabend Vorm. bekam ich von * Hesse nur einen Ctr Briketts. Er sagte, vor Januar sei nun gar nichts mehr zu haben, er sagte, es werde eine Kohlenkatastrophe geben. Inzwischen ist ernstlicher Frost eingetreten. Mir beinahe, nein wirklich lieb: denn das wird die Russen in Bewegung bringen. – Gestern Vorm. * Steinitz u. * Stern bei uns, Stern, der eine Zeitlang krank gelegen, nach monatelanger Pause, herzlich u. Don Quichotisch in seiner altfränkischen Bedeutsamkeit, am Nachmittag * Lewinsky hier. Lewinsky hat den einzigen * Sohn bei der OT, die erst in Frankreich, zuletzt im Elsaß schippte. Jetzt hat ihm der Kommandant der Gruppe geschrieben, der Sohn sei seit dem 19 Nov. versprengt, falls der Vater von ihm etwas höre, solle er ihn zur Bürgermeisterei, ich glaube in Breisgau, 1 dirigieren; es bestünde die Möglichkeit, daß er sich einem fremden Truppenteil angeschlossen oder zum Abwarten nachhause gewandt habe. Es bestehen außerdem drei Möglichkeiten, daß der Sohn gefangen oder in die Schweiz gelangt oder tot ist. Natürlich bestärkt man Lewinsky von allen Seiten in der Hoffnung, sein Junge werde heil davongekomen sein. Bei dieser Gelegenheit erzählte L. wieder Scheußlichkeiten aus seiner Ehe. * Die Frau beschimpfe ihn als Juden u. arbeitsscheu u. vaterlandsfeindlich, sie habe den Brief des Kommandanten an sich genomen u. gebe ihn nicht heraus, sie lasse ihn, L., im ungeheizten Zimmer frieren usw. – Widerum ist L. ein fragwürdiger Zeuge, er spricht von der Frau oft mit Feindseligkeit, immer mit Verachtung, er hat sie erst geheiratet, als der Sohn 13 Jahre alt war, er hat immer, u. tut es wohl jetzt noch, Erotik u. Herzensfreundschaft neben u. vor der Ehe kultiviert. Auch hat alles, was er sagt, das für den Export gebraute Pathos des Schauspielers. – Stern (er sollte immer den Bratenrock u. Cylinder tragen wie neulich bei * Stühlers Leichenfeier, denn das ist seine charakteristische Kleidung von der traurigen Gestalt[]) las mit unendlicher Umständlichkeit, mit genauesten Comentaren einen Brief vor, den sein * Sohn geschrieben hat. Der Junge, von dem ich früher manchmal berichtete, ist jetzt ebenfalls bei der OT, aber noch weit vom Feind in einem Barackenlager in Osterode im Harz; da arbeiten die militärisch Zusamengehaltenen tagüber bei verschiedenen Privatfirmen; er selber schippt u. fährt Schutt. Der Brief, ein ausführlicher Dank für Gaben zum 20. Geburtstag, enthält zu 9 / 10 Angaben über das Essen. Gestern bin ich satt geworden etc. Die Leute haben Filzstiefel geliefert bekomen, alle sonstige Bekleidung müssen sie selber mithaben oder sich schicken lassen. Ihr Sold ist ein Stundenlohn von 60 Pf. – * Steinitz erweist sich als * E. s ständiger Wohltäter mit unfermentierten Tabakblättern vom Grabe des jüdischen Tabakhändlers. * Lewinsky hatte mir ein kleines jüd. Gebetbuch mit Verdeutschungen mitgebracht. Der Kaddisch ist danach nichts als eine Lobpreisung Gottes, ohne jeden Bezug auf den Tod oder den Toten. Insofern mir vollkomen unverständlich. L. sagt, ihm auch. Ich wünschte, ich könnte einmal mit irgendeinem Sachverständigen in hebraicis sprechen. Die Ignoranz der Juden hier, auch derer die hebräische Gebete sprechen können (sprechen aber nicht übersetzen!) ist kaum geringer, eher größer, weil ahnungsloser u. seelenruhiger, als meine eigene. Auch was ich sonst an Gebeten in dem kleinen Buch colla coda dell occhio erfaßte, waren nichts als Lobpreisungen. Alles Menschliche u. Persönliche fehlte. Ich stieß auf 13 Bekenntnissätze als Katechismus oder Dogma des Judentums. Das allermeiste davon, eigentlich 12 von den 13 Punkten, nur u. ausschließlich die Betonung des einen Gottes. Einziger anderer Punkt der Glaube an die persönliche Unsterblichkeit. Gerade davon aber ist, soviel ich weiß im Pentateuch 1 keine Rede, es ist spät hinzugekomen. – Lew. fragte mich, ob ich an ein Fortleben post mortem glaubte. Ich sagte ihm meine leider – setzte auch das leider u. den Neid auf die Gläubigen hinzu – absolute Skepsis dem Glauben wie dem Unglauben gegenüber.
    * Frau Stühler erzählte früh, während ich abwusch: sie habe Brief aus Heidelberg ; dort, obschon noch nicht zum Kriegsgebiet

Weitere Kostenlose Bücher