Klemperer, Viktor
betrügt sich: wenn er genug Geld verdient hat, wird er den weltlichen Beruf aufgeben, sein verkomenes Gut abstoßen, die Kumpane verlassen u. in einem stillen reinen Haus im fromen Czenstochau ganz der Forschung leben. Es ist Selbstbetrug, u. als er das Geld zusamen hat, stirbt er rechtzeitig am Blutsturz. Dieses menschliche Schwanken, Sichvertrösten u. Sichbelügen, dies Ineinander von Frömmigkeit, Wissenschaftsdrang, Lebensgier ist ungemein ergreifend, könnte in jede Zeit gestellt sein u. ist doch sehr eigenartig zeit- u. raumbedingt gezeichnet.
Genau das Gleiche gilt von den andern Menschen des Romans. Der Fall, an dem sich Przegorski die Freiheit erwirbt[,] ist der des Starosten Karp. Eine * cornelianische Gestalt 1 u. auch wieder nicht. Großgrundbesitzer in Kurland, standhafter Anhänger des sächsischen Herzogs oder Praetendenten, während die Macht auf den Günstling * Katharinas II, * Biron, 2 übergegangen ist u. es der ganze Adel mit ihm Biron hält. Josias von Karp scheint erst nur ein Willensmensch u. Tyrann, ganz Corneille-Seele, ganz stur u. unbiegsam; die weiche Frau, der gutmütig unbedeutende Sohn sind ihm durchaus versklavt. Intrigue des Herzogshofes in Mitau. Christian Karp, der Sohn hängt an einer unbedeutend kleinen Aktrice, Suzon Jonannier. Durch sie verführt man ihn, gibt den beiden Gelegenheit nach Petersburg zu fliehen, läßt sie dort gut leben, wird den Jungen erst zurückholen, wenn der Vater kirre geworden. Einen Augenblick gibt der Vater nach, weicht von seiner Linie ab, bedient sich Przegorskis. Dann reißt er sich zur alten Sturheit zurück; darüber stirbt ihm die Frau, wird Agathe, die Braut Christians unglücklich, vereinsamt er völlig. Nochmaliges Schwanken, greisenhafte Schwäche – jetzt macht Przegorski, der den psychologischen Moment abgewartet, seinen großen Coup. Aber Christian bricht im letzten Augenblick aus, und nun findet der alte Karp seine Lebenslinie wieder, u. jetzt verharrt er durch 30 Jahre auf seinem Standpunkt. – Gleiche Menschlichkeit in der Zeichnung der etwas schwerfälligen Agathe, die lange an ihrem Verlobten festhält, dann ihr seelisches Gleichgewicht als einsame Gutsherrin findet. Und endlich dieselbe unpathetische, unsensationelle Menschlichkeit in dem Paar Suzon – Christian. Ein bißchen mag hier * Manon-Reminiscenz 3 mitspielen, aber Christian ist mehr schwach, mehr sinnlich verliebt, mehr innerlich leerer Gewohnheitsmensch als passionierter Liebender. Und Suzon ist weder Verführerin, noch Eheanglerin, noch Ehebrecherin, noch grande amoureuse. Sie hat ihren Christian ehrlich lieb, es macht ihr Freude mit ihm im Luxus zu leben, sie hält auch – gewohntermaßen – böse Zeiten durch; sie ist gutmütig genug, ihn zweimal freizugeben. Sie ist ehrlich erfreut, wenn er ihr doch wieder zuläuft – aber eine wirkliche seelische Gemeinsamkeit besteht zwischen den beiden nicht, u. einmal, wenn die Not sehr groß ist, u. wenn Christian gar nicht mehr standhält, wird sie wohl doch anderen Unterschlupf finden u. er selb wird gänzlich sinken u. versinken. (Der Vater erhält zuletzt Bittbrief eines verelendeten Matrosen u. reagiert nicht darauf). In der Skizze des Niedergangs – Christian wird zum Falschspieler, er flüchtet dann aus Rußland nach Portugal, wo ihn Przegorski aufspürt) sind alle Grellheiten vermieden. – In diese Erzählung ist allerhand 18 ième 4 eingeflochten. Außer dem zentralen Alchymiethema, das Anbranden französischer Aufklärung an das Petersburg der * Katharina u. der kleinen Intriguenpolitik – Betrieb der Zeit. Dazu die französisch gefärbte Sprache der Gesellschaft. Und hier ist ein Wort, das die LTI angeht. Przegorski sagt zu Agathe (die er liebt): sie möge nicht alles glauben, was man ihm Übles nachrede, man gefällt sich darin, mich zu diffamieren . Das ist das erste u. einzige Mal, das ich diesem Wort vor der * Hitlerzeit u. außerhalb der politischen Bedeutung begegne. (Nur * Witkowsky schrie bei Thiemig u. Möbius, * Paul Lang diffamiere das Judentum – aber da hatte er s eben von der LTI übernommen.) Fraglos ist das Wort im 19. Jh. aus der allgemeinen oder Gesellschaftssprache Deutschlands verschwunden u. wohl nur im diplomatischen Bezirk geblieben. * Bergengruen benutzt es 1926 nur als Farbtupfer für sein Sprachkolorit des 18 ième .
Donnerstag Vorm. 19. Dezember 44 .
* Jakob Schaffner: Das kleine Weltgericht. Schauspiel. 1943. Uraufgeführt im Deutschen Nationaltheater zu Osnabrück
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