Klemperer, Viktor
sie aber doch widerrechtlich, und entledigt sich des Gesellen, indem sie ihn verhaften lässt ; er will sich rächen sieht, daß sie in andern Umständen ist, daß sie sich u. ihren Ofenbauer u. Kind Kindsvater zu retten suchte, versteht u. verzeiht. Versteht aber auch, daß der Ofenbauer sein Geschäft unternehmungslustiger treibt u. begabter, als er selber seine Schusterei, u. stellt ihm daraufhin den Rest des Ersparten gegen gute Zinsen als stiller Teilhaber zur Verfügung. Wird Hausbesitzer auf solche Weise. – Gute unsüßliche Realistik, freie Moral. – Politische Richtung fehlt dem Bande. Nur Richtung auf moralische Freiheit. Die Sozialdemokratie schätzt * Sch. offenbar wenig.
Zur LTI: Ich begann .. mich selber aufzuziehen u. zu verspotten S. 210. Pejorativ: sich wie einen Kreisel aufziehen. * Bergsons Definition des Komischen als des Automatischen. Aufziehen als solche Metapher fraglos älter als die Reklamemetapher: eine Theaterscene, eine Anpreisung aufziehen. Der LTI geht der Sinn für die würdelose Komik des Automatischen verloren.
P.S. Auch Der Kilometerstein nur Versuch, dabei stark exageriert, 1 aber doch grandios als Malerei der schauerlichen Landschafts-, Nacht- u Sturmstimmung: das Pferd scheut im nächtlichen Wald u. tötet im Sturz den Fuhrmann. Naturalistisch-romantische Ballade.
In der titelgebenden letzten Skizze Die Laterne ist die Wonne des Aufbäumens gegen die übliche Moral zu stark aufgetragen. Man merkt immer den abtrünnigen ehemaligen Schüler von Demut (mit zwei t), 2 den Zeitgenossen der * Sudermann schen Heimat. 3 Aber doch ein origineller Zug u. Falke: der gänzlich Lebensmüde von der vanitas vanitatum gänzlich Überzeugte, will sich aufhängen u. sieht im letzten Augenblick die Plumpheit einer Laterne: Man könnte das Ding hübscher herstellen, fällt ihm ein, u. darüber vergißt er die vanitas der Dinge, den Selbstmord y todo u. wird Laternenfabrikant. (Und später wird er sich gewiß auch mit der Geliebten zusamenfinden, die ihn vorläufig um seiner Weichlichkeit willen beiseite geschoben hat u. die gut bezahlte Mätresse eines Prinzen geworden ist)
PS 2 . Hat es Zweck, daß ich auch Dinge, die gar keinen Zusamenhang mehr mit der LTI haben, so ausführlich notiere? You never can tell. 4 Und was kann ich besseres mit meiner Zeit anfangen?
Mittwoch Vorm. 10. Januar 45 .
Seit Tagen, nach ganz kurzer Taupause, wieder Frost. Aber keine Russenoffensive. Anzi. Deutsche Angriffe in Ungarn wie im Elsaß.
Gestern Vorm. Kohlenmisère mit dem üblichen Memento mori. Erst eine Ladung aus dem Keller herauf: Nachher meldete * Frau Cohn, die das Schleppen aus gleichem Grunde genau so anstrengt wie mich, es gebe Briketts bei * Hesse. Dort war ein Haufen an der Straße aufgeschüttet, vor ihn die Wa[a]ge hingestellt, * Frau H. wog zu, Herr H. fertigte die Frauenschlange ab (Karteneintragung u. Zahlung). Jedem einen halben Centner. Die Briketts waren schon im Schleppkahn verladen – für das Ruhrgebiet! – aber Eisgang störte, so wurden sie wieder herausgeholt u. ecco 5 ! Eine Frau vor mir bekam einen ganzen Centner. Eine Frau hinter mir mehr wehmütig als gereizt: Die bekomt einen ganzen Centner. Sofort die mit dem ganzen Centner schwer erregt u. halb weinend: Ich tausche gern mit Ihnen, ich bin bombengeschädigt – seit fünf Wochen – meine ganze Kraft ist hin – aber das heißt ja schon wieder, ich beklage mich! Die andere: Aber das hab ich ja nicht gewußt, aber das hab ich ja nicht so gemeint ... Die Frau Hesse: Sehen Sie, wären Sie bloß still gewesen! Herr Hesse von seinem Pult, warnend u. kommandierend: []Ruhe! Ruhe da draußen!! Das ist das Charakteristische der Scene: alle haben sie Angst: Einer könnte irgendwas anzeigen, die Beschwerde der Bombengeschädigten, die Beschwerde der Neidischen, die Unruhe in der Schlange vor dem Hesse-Laden; jede dieser Anzeigen würde zu Strafe führen. So lange diese Angst das stärkste Gefühl im Volke ist, so lange geht der Krieg weiter. – Es lohnte sich mir nicht, den halben Centner in den Keller zu legen; in zwei Eimergängen brachte ich ihn gleich herauf u. hatte auf solche Weise drei Lastengänge über unsere Treppen im Laufe eines Vormittags. Mein Herz quittierte sie deutlichst.
Am Nachmittag u. Abend las ich viel aus dem Ostasienbuch von * Richard Katz 6 vor (Funkelnder Ferner Osten). Einige Stücke daraus sind uns aus dem Bummel um die Welt bekannt, den ich vor dem Raubzug der Gestapo besaß. Das Ganze ist
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