Klemperer, Viktor
das Summen in der Luft, u. tatsächlich waren die Flieger auch wieder da. Kerzen wurden angezündet, u. jemand rief, es seien gar keine Flieger da, man müßte nur mit der Handmaschine neuen Strom für die Beleuchtung u. den Ventilator schaffen. Das große Rad wurde gedreht, u. es sah phantastisch aus, wie die übergroßen Schatten der Arbeitenden an der Wand auf- u. niederfuhren. Nach ein paar Minuten gingen die Lampen allmählich wieder an, u. die Entlüftungsmaschine begann zu singen. Ein paar Stunden später wiederholte sich die Scene .. * Eva schlief fest, ich ging herum, schlief wieder, wanderte wieder, war ohne Gedanken u. ohne Zeitgefühl, aber doch etwas entlasteter als die Nacht zuvor. Immer wieder wurden Verletzte hereingetragen oder von einem Raum in den andern verlegt, immer wieder kamen neue Sanitäter, auch neue Civilisten. Ein Mädchen erzählte mir, sie habe im Trompeterschlößchen 1 Dienst getan, das einen besonders guten Keller hatte. Beim ersten Angriff sei das Centraltheater u. ein nahes Hôtel getroffen worden, die dort befindlichen Leute hätten den Trompeterkeller aufgesucht, sie hätten sich dort unten Wein geben lassen. Dann habe auch das Schlößchen gebrannt, es sei im Keller furchtbar heiß geworden. Sie, die Kellnerin, ein Koch u. noch zwei Angestellte hätten die Ventilatormaschine mit der Hand bedient, hätten feuchte Tücher vorm Mund getragen u. wären noch ins Freie gekommen; alle andern aber seien zusamengebrochen, die Geretteten seien über ganze Leichenhaufen geklettert.
Sehr spät in der Nacht oder schon gegen Morgen kam * Witkowsky aufgeregt zu mir: Wir werden alle herausgeschafft, nach Meißen, nach Klotzsche – die zuerst herauskomen, sollen es am besten haben, komen Sie gleich mit uns, es geht nach Klotzsche. Ich weckte Eva, sie war einverstanden, es dauerte aber eine Weile, ehe sie fertig war. Da hieß es, der Wagen sei voll, es würden aber in kurzen Abständen weitere folgen. Wir blieben draußen auf der Bank vor dem Keller – drin war heiße dicke Luft. Wir hörten die Geschichte eines jungen Menschen, der mit seinem Amt von Czenstochau hierhin geschafft worden war, u. nun war hier seine Amtsstelle mit dem Rest seiner Habe untergegangen. Wir saßen lange, es dämerte. Dann stand wieder ein Wagen bereit, man schaffte mehrere Kranke auf Bahren hinein, preßte dann uns Gesunde dazwischen u. in den Hintergrund. Eine holprige Fahrt an Ruinen u. Bränden vorüber. Genaues konnte ich von meinem Sitz aus nicht sehen, aber jenseits des Albertplatzes hörte die restlose Zerstörung auf. Ziemlich früh am Morgen des Donnerstag waren wir dann im Fliegerhorst.
Klotzsche Do Morgen 15/II–Sonnabend Abend 17/II.
Die erste Wonne war der Riesenkessel Nudelsuppe im Schlafsaal. Ich nahm ruhig den Löffel eines alten Mannes, der vor mir gegessen hatte. Ich aß drei tiefe Teller. Dann gingen wir auf Suche nach unseren Leuten und fanden sie rasch in einem ganz ähnlichen Saal eines ganz ähnlichen anderen Hauses. Immer habe ich mich in diesen gleichförmigen Labyrinthen verirrt. Wir fanden die Ehepaare * Waldmann u. * Witkowsky u. die * Frau Bein, der man * Mann u. * Sohn im Kz erschossen hat. Gute Leute, aber auf die Dauer – bis Sonnabend war es genug – ein bißchen zu sehr populusque. 1 Ebenso wie der arische Teil der Belegschaft. Wo waren die gebildeten Leute geblieben? Wir fragten es uns beide. Wahrscheinlich gibt es davon so wenige, daß sie bei solcher Katastrophe überhaupt verschwinden. Ein grauhaariger Mann sah aus wie ein * Hauptmannscher Bühnenvagabund. In der Nacht ließ er * E. s Wolljacke u. Rock unter seinem Kissen verschwinden. Als E. energisch nachforschte u. fand, erklärte er, er habe sich im Dunkeln geirrt. Bei dieser Gelegenheit zeigte sich der Wankelmut der Volksstimmung. Erst war man über den versuchten Diebstahl empört. Dann aber lehnte sich ein Weib auf: Warum schläft se nackig? Warum passt se nich uff? Und die Stimmung schlug um. Der Populusque – der jüdische mit inbegriffen – war anspruchsvoller als wir: bald war die Suppe zu eintönig, u. unmöglich konnte man sich daran sattessen! Bald war zu wenig Betreuung vorhanden, bald sehnte man sich nach eigenem Zimmer u. Selberkochenkönnen. Frau Bein war das volkstümlichste Gemüt unserer Gruppe; morgens wachte sie weinend auf: alle Möbel, alles verloren! Gleich darauf war sie vergnügt. Uns nahm man wohl ein bisschen übel, daß wir tagüber unsere eigenen Wege gingen. Auch daß wir am
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