Klemperer, Viktor
Essen nicht mäkelten. Natürlich wurde es wirklich eintönig, immer dieselbe Suppe (nicht mehr das schöne Nudelgemisch des ersten Morgens) u. Schüsseln mit zerkrümelten Brodresten dazu – von welch schmutzigen Fingern zerkrümelt! –, aber wir waren eben dankbar sattzuwerden. – Noch vor dem Mittagessen hatten wir am Do. Alarm, u. der Luftschutzkeller war ein sehr leichtes Bauwerk, das bestim bestimmt keinen Treffer ausgehalten hätte. Aber seltsamerweise war Klotzsche bisher noch immer verschont geblieben u. blieb es auch diesmal – die Flieger waren wieder in Dresden. 1 – Am Nachm. ging ich ins Lazarett. Mir waren schon in Dresden die übervielen Augenbeschädigungen aufgefallen. Hier hatte man eine besondere Augenstation eingerichtet. Ich kam bald heran, der junge Arzt war sehr liebens würdig würdig, fragte nach meinem Beruf u. wurde noch liebenswürdiger u. aufmerksamer. Befund: nach oberflächlicher Untersuchung (u. zu mehr fehlte es hier an allem) befinde sich die Blutung unter der Bindehaut u. sei harmlos; aber ein Riß in der Netzhaut sei doch nicht ausgeschlossen, ich müßte noch einen Facharzt aufsuchen. Wie eilig hätte ich das in normalen Zeiten getan. Jetzt blieb mir nichts anderes übrig als diese Gefahr Gefahr zu den übrigen zu legen. Das Auge hat sich inzwischen fast hergestellt, u. nun wird wohl nichts weiter mehr nachkomen. –
Ich war ohne Hut, Kragen u. Strumpfbänder in Kl. angekomen. * E. fand ein Hemd mit angearbeitetem weichen Kragen im Luftgepäck – (das trage ich seitdem Tag u. Nacht); eine Krawatte dazu wurde mir vom Kolonialwarenhändler in Kl. geschenkt. Strumpfbänder (u. einen unbenutzbaren Karikaturisten[-]stoffkragen) verkaufte mir der Kurzwarenladen des Städtchens Die Frau darin war außer sich vor Angst: die Engländer hätten Flugblätter abgeworfen, nun kome Klotzsche an die Reihe Reihe.
Als wir am Do Abend in unser Quartier zurückkamen, fragte uns ein Soldat, ob wir ins Kino wollten, u. schon saßen wir im Filmsaal. Das erstemal nach 7 Jahren wohl, ein seltsames Gefühl. Wir sahen u. hörten ein Stück Mitte u. wurden nicht klug aus der Handlung (So war mein Leben Leben 1 ); jedenfalls war es technisch u. schauspielerisch nichts sonderlich Gutes, u. eine Veränderung gegenüber dem Film von 38 war nicht zu erkennen.
Der Freitag verlief ähnlich wie der erste Tag im Fliegerhorst. Es hieß schon, wir würden bald von dort fortkomen. Man mußte sich einen Versorgungsschein verschaffen – ich hatte Bedenken, die andern gar nicht. Sie kauften sich mit den neuen Marken weißes Brod u. Honig, um die Kost aufzubessern, * Witkowsky versah sich mit Wäsche, ließ sich auch Geld geben – man war der festen Meinung, der Krieg werde zuende sein, ehe das Chaos in Dresden gelichtet sei. Man betrachtete die Katastrophe sozusagen als Jahwes Veranstaltung zur Errettung der Juden, insbesondere der auf der Deportationsliste Vermerkten. Ich war nicht ganz so zuversichtlich u. bin es nach wie vor nicht. In der Nacht zum Sonnabend hörte ich ununterbrochene Fliegerei. In dieser Nacht kam mir auch der Gedanke: Piskowitz. Am Morgen erzählte eine besonders zutunliche Helferin – sie hatte uns am Do. früh empfangen, sie hatte die Eltern in Breslau – die Ju s hätten Nachtüber immerfort Verwundete aus dem eingeschlossenen Breslau heraus-, u. Munition hineingebracht. – Wir machten am Vormittag noch unsere Alleinwege. Bei Tisch (Sonnabend Mittag also) erfuhren wir dann, am Sonntag werde der Fliegerhorst von allem Civil geräumt, die Ausgebombten transportiere man in Orte der Umgebung wie Coswig u. Meißen. Da glaubten wir, Piskowitz dürfte uns ein tieferes Untertauchen ermöglichen u. trafen also unsere Vorbereitungen zur Abreise. – –
Ist noch etwas nachzutragen?
Einmal begegneten wir im Horst Horst einer Amazonengruppe. Die Mädel steckten in Hosen u. marschierten u. sangen wie die Soldaten. Waren aber keine Flintenweiber, bloß Helferinnen an Scheinwerfern etc. – u. also doch Amazonen. – Die Familie * * Loewenstamhatte sich schon am Do früh vom Albertinum aus selbständig gemacht. Die arische Frau hat Verwandte in Pulsnitz. Dorthin wollten sie zu Fuß flüchten. –
In Klotzsche kamen mir zum erstenmal Gedanken über unsere Verluste. Alle meine Bücher, die Lexika, die eigenen Werke, ein Maschinenexemplar des 18ième u. des Cur. Geschieht ein Unglück in Pirna, dann ist meine gesamte Arbeit seit 1933 vernichtet. – Im Schreibtisch lagen zusamengestellt die
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