Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Klemperer, Viktor

Klemperer, Viktor

Titel: Klemperer, Viktor Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Die Tagebücher
Vom Netzwerk:
der eigentlichen Schulanlage fort fort führt eine Allee am Parkplatz schwerer Transportautos u. an großer Kaserne vorbei zum Flugplatz. Am Tor, dem einzigen Zugang der Soldatenstadt oder in nächster Nähe das Lazaretthaus u. das Gebäude der Kommandantur. Alles künstlerisch schön, alles glänzend gehalten, alles von frischem Leben erfüllt. Wo ist hier Menschenmangel oder Materialmangel oder Stimmungsmangel oder Lässigkeit oder Renitenz? Wo spürt man 5 ½ Jahre Krieg u. nahen Niederbruch? Aber vie l viel imposanter noch als das militärische Element war das andere. In Massen strömten die Dresdener Obdachlosen hier heran, tausend soll man hier hierhin gebracht haben, u. die plötzliche Anspannung wurde glatt ausgehalten. Jeder bekam seine Matratze auf dem Fußboden der großen Säle – ich dachte an die Alfonsschule 1 anno 1915 –, jeder wurde reichlich satt; es gab zur Hauptmahlzeit schöne dicke Suppen in beliebiger Menge, es gab morgens u. Abends Kaffee u. reichliche Brode mit irgendwelchem Aufstrich, wir wurden satter, u. auf nahrhaftere Weise, als zuhaus, u. niemand brauchte zu hungern (obwohl viele über Eintönigkeit klagten.) Von größter Geduld u. Liebenswürdigkeit waren die Helferinnen. Es spurte, so wenige Kilometer vom Chaos fing sich die stürzende Organisation wieder. Danach muß Deutschland wirklich Meter für Meter vernichtet werden, ehe es ganz verloren ist. Danach kann es noch lange Widerstand leisten. – Aber dann gingen wir in die Stadt Klotzsche. Dreifaches Leben der Landstraße in ununterbrochenem Strömen. Einmal Militärtransporte, allerhand Train. Russengäulchen u. russische Soldaten, 2 oft mit asiatischen Gesichtern – deutsche Armée das zur Rettung Europas. Sodann von Dresden her Leute mit bepackten Handwagen, mit Resten, die sie unter Trümmern in Kellern gefunden. Ihnen entgegen Flüchtlingstrecks aus dem Osten. Lastwagen z. T. durch kunstvolle Strohdächer in Wohnwagen verwandelt, gelegentlich ein kleiner Wagen od. eine Kutsche an den ersten Wagen gebunden. Hier dachte ich wieder, es könne doch nicht mehr lange dauern.
     

 
    Dienstag Vorm. 20. II.
     
    All die Gedanken über Volksstimmung u. Lage führten in unserer Gruppe natürlich immer wieder zur Frag Frage der persönlichen Sicherheit. Ich war der einzige, der ängstlich war. Wir erfuhren dann am Sonnabend: 1) laufe am Sonntag ein neues Capitulations-Ultimatum ab, 2) werde der Fliegerhorst am Sonntag von allen Civilisten geräumt. Darauf nahm * E mit großer Unruhe u. wilder Energie den Piskowitzplan in die Hand. Um ¾ 7 waren wir mit allen Papieren zurück im Fliegerhorst, um 19 10 sollte unser Zug vom Bhf. Klotzsche abgehen, um 19 20 waren wir mit unserm Gepäck u. trockenen Brodschnitten dort. Zug wird ausgerufen – unbestimmt wann. Gedränge von Militär u. Civilisten. Wir aßen unser Brod. Um 20 30 etwa kam der Zug. Fahrt im Dunkeln mit endlosen Aufenthalten u. unglaublichem Funkenflug der Maschine. Genau um Mitternacht in Kamenz. Das Bahnhofsgebäude überfüllt. Truppen u. Flüchtlinge. Das Zimmer der NSV. Zwei Bettschragen übereinander wie im Unterstand, auf jedem 6–8 kleine Kinder, teils schlafend, teils schreiend. Am Kachelofen trockneten Windeln. Dazwischen lange Tische u. Stühle. Helferinnen gaben einen schauerlichen Kräutertee u. Marmeladenbrod aus. Kinderwagen. Ein Kind wurde ausgewickelt, sein entzündetes Hinterteilchen gelüftet. Kommen u. Gehen, heiße dicke Luft, Überfüllung. E. trank einen Schluck, ich aß ein Brod, dann gingen wir in die Schalterhalle, wo man atmen konnte. Deutsche Russensoldaten – der eine genau so rein mongolisch wie sein Kamerad vom Train auf der Landstraße in Klotzsche, lagen am Boden ausgestreckt auf ihren Mänteln u. Tornistern, zwei Nonnen mit großen weißen Hauben saßen auf einer Bank. E. schlief stundenlang auf der langen blechbeschlagenen Fläche des Gepäckschalters, ich ging viel auf u. ab u. studierte die Anzeige eines Warenhauses Lehmann am Markt, das sein Geschirr in vorheriger Güte nach dem Siege zu liefern versprach. Gegen Morgen gingen wir in die etwas gelichteten u. gelüfteten Innenräume. Ein junger untersetzter stämmiger Mensch mit gutmütigem Negertyp, ein bisschen * Dumas père, bat um Feuer, setzte sich zu uns, erzählte. Der Vater Teilhaber eines großen Cirkus, er selber Dompteur, gedienter Fallschirmer, aus dem Heer als leidend entlassen, jetzt zum Volkssturm gerufen. Er sprach sehr kritisch über die Lage, alles könne in wenigen

Weitere Kostenlose Bücher