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Klemperer, Viktor

Klemperer, Viktor

Titel: Klemperer, Viktor Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Die Tagebücher
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wendisch untereinander – fiel Agnes plötzlich wütend über ihn her, stieß ihn zu Boden, prügelte ihn, daß er weinend hinauslief; fünf Minuten später war er wieder in alter Laune da. –
    Das Wetter draußen stürmisch u. kalt, Sonnenschein wechselt mit Schnee- u. Graupelschauern: ein harter um 4 Wochen verfrühter April – die Stachelbeeren sind dicht am Blätterkriegen.
    Meine Stimmung wechselnd: bisweilen gebe ich alle Hoffnung auf, u. die gemeine Angst vor der Gestapokugel würgt mich; dann wieder Hoffnung oder doch Stumpfheit bei gleichzeitigem Auskosten der romanesken u. nahrhaften Situation. Wir wollen sehen, ob wir heut Abend beim * Krahl die Lage ein bisschen klären können. Bisher sahen wir nicht, wo für uns die größeren Gewinnchancen liegen: wenn wir uns dem Flüchtlingstransport in die Beyreuther Gegend anschließen, oder wenn wir auf eigene Faust Anschluß an * Annemarie suchen. Die Namensänderung 2 im zweiten Falle scheint * E eine leichte Sache mir eine Unmöglichkeit.
     

 
    Sonntag Vorm. 4. März 45
     
    Ein kleiner Spazierschlich gestern – beide sind wir mit dem Herzen wenig auf der Höhe – Abendrot durch Kiefernwald. – Es kennen uns schon allzuviele Menschen hier. –
    Dann gegen 7 zu * * Rothes und einiges gehört. Nun schon gewohnt: das Suchen, das Durcheinander deutscher u. feindlicher Sendungen, die anschwellenden Störungsgeräusche: Aua! Aua! Aua! und dazwischen auf und ab ein Wasserglucksen, als marschiere jemand durch sehr nassen Morast, oder ein ununterbrochenes Tülülülülü .. Oder auch eine hübsche richtige Melodie, ein Lied, ein Tanz unter u. über oder hinter der Rednerstimme, die jetzt deutlich klingt, jetzt zum Schreien anschwillt u. dann wieder ganz versinkt. Und immer die Brocken u. Sätze u. Abschnitte verschiedener Sprachen. Ein fettiger Holländer behauptet sich besonders lang, macht sich besonders breit, ein Franzose ratscht sonore Heeresberichte herunter, in denen gerade die Ortsnamen ins Unkenntliche verzerrt sind, ein Engländer scheint Sprachunterricht zu geben, ein Slave, wohl Tscheche, predigt eindringlich, u. dann sind wieder deutsche Nazismustriefende Berichte da ... Ich habe aber nun schon Übung aus alledem einiges herauszufischen, zu m combinieren, gegeneinander abzuwägen u. auszugleichen. Gestern auf der Hoffnungsseite: auch nach deutschem Heeresbericht scheint der Westwall u. fast schon das ganze linke Rheinufer verloren, sind die Russen mindestens in Pomern im Vordringen, sind die Zerstörungen durch gehäufte Terrorangriffe ungeheuer. ( * Jurij – so wird er gerufen u. scheint Jurjo, nicht Jurik zu heißen – schlief, als wir um 20 h. gingen, erwachte zur 21 h-Sendung, die weniger gestört war, u. berichtete dann von elf an diesem einen gestrigen Tag getroffenen Städten; Rothe père hatte schon von seiner Arbeit mitgebracht, daß Dresden selber wieder schwer bombardiert 1 worden , u. daß auf dem Hauptbahnhof unter Flüchtlingen ein Blutbad angerichtet worden sei. Im ganzen solle es diesmal 3 000 Tote gegeben haben ...) –
    Auf der Seite der Trostlosigkeit aber stand ein sehr deutliches Stück Rede – * Peter Arnold 2 , sagte * Rothe père, der Sprecher des amerikan. Rundfunks an die oesterreichischen sozdem. Parteigenossen. Er berichtete von dem internationalen Gewerkschaftscongreß, auf dem sie nicht vertreten sein konnten. Sie sollten sich aber bereit halten, im September finde in Paris der nächste Congreß statt, u. den würden sie beschicken können – freilich , bis dahin hätten sie noch Schweres zu erdulden, denn die eigentich schweren Kämpfe stünden Deutschoesterreich eben jetzt in den komenden Monaten bevor. Der Mann rechnet also durchaus damit, daß Deutschland vorderhand nicht zusamenbricht, sondern Stück für Stück, noch durch Monate hindurch, erobert werden muß. – Auch ein Stück Rede des Breslauer Gauleiters (Hanke, 3 glaube ich) aus der belagerten Festung heraus klang gerade in seiner Resigniertheit durchaus ungebrochen. Man wisse nicht, was komen werde, aber man wehre sich gemeinsam, Bürgerschaft u. Truppe, Männer u. Frauen, man habe sich von allen früheren Notwendigkeiten u. Selbstverständlichkeiten losgelöst, u. leiste Widerstand. Auf jeden Fall binde man feindliche Kräfte. – Das ist fraglos wahr, u. das ist fraglos nicht nur in Breslau so. – Auf der andern Seite: das Innere Deutschlands löst sich doch tagtäglich mehr in blutigen Brei auf. Widerum: dieser Brei sendet Musik u. Reden u.

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