Klemperer, Viktor
wissenschaftler. (Bei alledem gutmütig – aber immer absolut hart, unsentimental.[)]
Das religiöse, das fühlende Amerika fehlt! * Kellermann sieht mit den Augen der Dekadenz. Die Tunnelidee ist einer leeren u. sehnsüchtigen Menschheit eine Art Religionsersatz, ein Lebensinhalt. – Sehr arbeiterfreundlich ist K. nicht. Viel Verachtung für bestimmbare Masse.
2) Der Jude . Eigentlich genauso gezeichnet, wie ihn der Natsoc. zeichnet. Aber nicht ohne Sympathie bis zuletzt. Samuel Wolfsohn aus Szentes (Ungarn) – S. Woolf durch Lloyd zum finanziellen Leiter des Tunnelunternehmens gemacht. Von ganz unten her. Überall zwickte ihn der Rock: Ungar u. Jude. Über Berlin etc. nach USA in die Freiheit. Größtes Finanzgenie, skrupellos in Bestechungen. Fett. Orientalisch – blonder Harem! Tadelloser Amerikaner. Aber innerlich unfrei. Er weiß, er ahmt nach, trägt Maske, muß sich anschmiegen. Er spielt den Amerikaner, Allan ist es, A. ist Persönlichkeit, von ihm geht Macht aus. W. möchte einmal von ihm freundschaftlich angeredet werden, nicht Herr W. Allan aber schätzt ihn nur als Finanzmann, hat aber instinktive Abneigung gegen diesen haarigen fremdrassigen Asthmatiker. 296. W. fühlt die Antipathie Allans u. erwidert sich sie mit Haß u. Herrschgedanken . Er beginnt zu speculieren (gegen seinen Vertrag), um die Concernmacht in die Hand zu bekomen. Aus Herrschsucht, nicht aus Geldgier. Und weil er innerlich frei sein möchte. Fehlschläge, Unsicherheit, Katastrophe. Er sagt zu Allan: Vermeiden Sie Skandal, u. ich ersetze alles. Allan nimt den Skandal auf sich u. treibt ihn in Selbstmord. (Der zärtlich geliebte Judenvater in Szentes erhängt sich). Hier ist also alles gegeben: Rassenhaß, orientalische Gier nach nordische[n] Blut Frauen, Betrug, Herrschsucht.
3) Alle späteren USA-Filmscenen: Demonstrationen u. ihre Abwehr, Run auf Bank, Brand eines Hochhauses (mit Pressephotographen), Milliardärsversamlung auf im Dachgarten, Milliardär mit spleenig tyrannischer Tochter.
Der Roman, 1913 geschrieben, spielt in irgendwelch naher Zukunft. USA scheint hier die modernste dekadente Gesellschaft, trotz aller Aktivität. Das Leben war heiß u schnell, wahnsinnig u mörderisch, leer, sinnlos. Tausende warfen es fort. Eine neue Melodie, wenn wir bitten dürfen, nicht die alten Gassenhauer! Und Allen gab sie ihnen. 129 –
Mac Allans neue Hafenstädte waren alle Ableger Amerikas, vorgeschobene Forts des amerikanischen Geistes, gepanzert mit Willenskraft u. angefüllt mit Aktivität. 386
3/III 45
Sonnabend Mittag 3. März 45 .
Die * Kellermann-Notiz mit Schwierigkeiten, inneren u. äußeren durchgeführt. In der sehr wohnlichen Wohnkamer neben der Küche. Je ein Puppenfensterchen an den Schmalseiten, die Balkendecke in ihrer Unverputztheit noch tiefer wirkend als die weiße [d]rüben, am Hoffenster ein Sopha Sopha mit Tischen davor, am Vorgartenfenster ein winziger eiserner Herdtisch mit großem Ofenrohr, ein alter Küchenschrank dazu u. natürlich zwei frome Ornamentsprüche gerahmt an den Wänden. Hierhin eine Weile zurückgezogen, denn drüben tobt das Schlachtfest, ein Entzücken für die * * Kinder, von dem sie seit gestern erfüllt sind. Und inzwischen gab es auch – ohne vorherigen Alarm! – das schwere Summen größerer Geschwader über uns; hoch oben zwischen Wolken u. blauen Himmelsstücken klein Bündel von kleinen Silberfischen, Striche, Fliegenmaden auf Schinken ähnlich, 8, 10, 12 gebündelt, immer neue. Man hörte ein paar ferne Flakschüsse, später ein paar Detonationen, die vielleicht Abwürfe waren – Jurik behauptet, es steige Rauch auf aus einem irgendwo in der Gegend liegenden Benzinwerk. 1 –
Ein Schlächter war gestern mühselig gefunden worden, u. seitdem waren die Kinder, vor allem Juri k in dauernder Ekstase. Ich selbst hatte mir in diesen Tagen öfters gesagt, das Schwein lebe noch, trotzdem es schon am Mittwoch hinüber sollte, u. hatte mir ein Omen daran genomen. Nun berührte mich die Schlachtnachricht um so peinlicher, als wir ja gleichzeit[ig] von Evakuierung bedrohte bedroht wurden. – Der Tag begann früher als sonst, unten wurde der Kessel geheizt. Um 8 erschien der Schlächter, ein älterer, gutmütig aussehender kräftiger Mann, Wetzstahl u. Messeretui an der Seite, in der Hand eine merkwürdige Röhre, eine Spezialpistole, die er mir nachher zeigte. Ich ärgerte mich über meine Sentimentalität u. meine abergläubische Furcht. Das Schlachten ging sehr viel
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