Klemperer, Viktor
Unterhaltung überall hin, zahlt Renten aus, gibt Lebensmittel aus, ordnet u. organisiert sich immer u. imer wieder. – Gar nichts gebe ich auf die täglich wiederholten u. variierten Reden der Kriegsgefangenen im Soldatensender, die dazu auffordern, Schluß zu machen, mörderisch unsinnige Befehle zu sabotieren, sich gefangen nehmen zu lassen. Ebenso wenig freilich auf die deutschen Propagandanachrichten. Unter ihnen gestern als schönste: in USA habe sich sehr öffentlich eine jüdische Leichfledderer = Gesellschaft gebildet. Du kannst mehr verdienen als dein General, wenn du uns die Uhren, Goldsachen etc. Gefallener ablieferst. Wir zahlen ...
– Heute beginnt nun unsere dritte Piskowitzer Woche. Es dürfte die letzte sein. Die Ungewißheit der nächsten Stunde ist eine so grausige, so unabwendbare, so permanente, u. jedes Tun u. jedes Unterlassen hat so viel für u. so viel gegen sich – wegstreben, sich um hierbleiben bemühen , nach Pirna, sich einem Transport anschließen??? –, daß wir ganz fatalistisch abwarten. –
Das viele Schlachtfest-Essen beschwert mich schon. Aber ich habe immer das Gefühl, ich müßte mich hier auf Vorrat stopfen, denn wir können von heut auf morgen in die alte Hungerei zurück-, u. auch in noch stärkere Hungerei fallen.
Den winzigen * Jury Scholze werde ich wohl immer so vor mir sehen, wie gestern auf der Treppe: im schmierigen Jackett, in den viel en zu weiten an den Knöcheln aber für (nicht vorhandene) Schaftstiefel verengten u. geknöpften Hosen, die zerschlissene Mütze auf dem Kopf, Blutflecken am Knie u. breit zwischen den Zähnen, wie das Bowiemesser einer Wildwestgeschichte, eine Schweinswurst. Auch heute noch ist er erfüllt vom Schlachtfest; daneben von dem Militärspiel, das die Jungen des Ortes vorigen Sonntag inscenierten u. heute Nachmittag noch vollkomener fortsetzen wollen. Von den Soldaten der letzten Einquartierung haben sie vielerlei geerbt oder gemaust: Leuchtkugeln, Carbid, Pulver, Patronen, Sta[h]lhelme ... Als Jury gestern bei * * Rothes davon schwärmte (wie die ganze Woche hindurch uns gegenüber) sagte Frau R. in erbittertem Pazifismus, sie wolle von alledem nichts mehr hören. Jury belehrte sie: das sei ganz etwas anderes. Mit der Hj. – er sagte sxeissHj; 1 sxeisse = 2 ist das beliebteste von allen bei jeder Gelegenheit gebrauchte Beiwort, * Marka protestiert, sie werde sich doch nicht die sxeisszähne 3 putzen –, mit der Hj also wollten sie alle nichts zu tun haben u. drückten sich, wo immer möglich, von ihr; aber das, Mensch! das sei ein feines Spiel! –
Während ich schreibe, nach 10 h, ist wieder einmal Alarm, fern, klein u. ohne Schießen bisher, aber fraglos der erste von etlichen .. Zu meinem Bilde übrigens von den gestern hier sichtbaren u. hörbaren Fliegerbündeln hoch oben: das waren nicht Schinkenmaden, sondern die weißen Stäbchen der Schmeißfliegen-Eier auf Schinken.
* Zöberlein lektüre mit wenig Vergnügen u. mehr faute de mieux 4 : Hans Zöberlein: Der Glaube an Deutschland. Ein Kriegserleben von Verdun bis zum Umsturz Zentralverlag der NSDAP. Frz. Eher Nfg München 1935, 136–145 Tausend . Ein kurzes Widmungsblatt Auf den Weg! facsimiliert von * Hitler unterzeichnet, München im Februar 1931. Man hört das Herz der Front schlagen .... Der heranwachsenden Jugend ist es das Erbe der Front! – Die Photographie des Autors (Zivil) zeigt ein langnasiges dunkeläugiges Subalterngesicht mit Hitlerbürstchen. – Wie kommt das Buch zu seinem, zu diesem Ruhm? Nach den ersten hundert von fast 900 Seiten ist es mir noch nicht ganz klar. Es steht künstlerisch u. sozusagen militärtechnisch weit unter * Beumelburg. Es malt mit Verdun beginnend u. dann im Westen verbleibend sehr anschaulich, aber sehr einförmig in endlosen Variationen u. Wiederholungen die Situationen des einfachen Soldaten im Kampf. Das ist 1 000 x geschildert worden. Ist Z. einer der ersten oder der neunhundertste? Seine Eigentümlichkeit: die starke Betonung des bayrischen Dialekts, der bayrischen Volkstümlichkeit. Verhaßt ist mir – aber vielleicht ist dies das wahrhaft Volkstümliche – sein poetisches Pathos an bedeutsamen Stellen, denn dies bringt immer nur abgegriffenste Clichés, nie ein eigenes Bild. Stilistisch ist Z. in dieser Hinsicht durchaus subaltern, durchaus kleinbürgerlich. Was mir bisher an ihm am meisten mißfällt: er schiebt sich gern die Heldenrolle zu, er läßt sich als Mordskerl rühmen, er rettet einen verwundeten Kameraden
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