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Klemperer, Viktor

Klemperer, Viktor

Titel: Klemperer, Viktor Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Die Tagebücher
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humaner vor sich, als ich befürchtet hatte. Das Tier ließ sich ohne Quieken ganz gemütlich aus dem Stall in die bereitgestellte Lattenkiste zum Wiegen treiben, (2 Ctr, 10) ließ sich ruhig einen Strick um die Hinterpfote legen u. mit ein paar freundschaftlichen Kläpsen in die Scheune bringen. Ich sah wie es dort im Stroh wühlte, wie der Schlächter über ihm kniete, es zurechtdrückte – kein einziger Angstton, ein leiser Schlag oder Knall, da rollte es schon auf den Rücken. Seine zuckenden Beine wurden festgehalten, während ein Strahl aus der Kehle spritzte, aber dies Zucken war offenbar nichts Bewußtes mehr. Manchem Menschen in Dresden hätte ich einen so sanften u. unbewußten Tod gewünscht. Und mir erst! – Nachher sah ich, wie das ganze Vieh in einer Holzwanne überbrüht u. entborstet wurde, wobei Juri k u. un suo cugino piccolo 2 mithalfen. – Beim Schlachten war der * Bürgermeister zugegen gewesen. Wir hatten ihn interpellieren wollen, aber ehe ich den Mann in Lederjacke u. = haube wiedererkannte, war er schon wieder fort. Ich denke, wir suchen ihn heute noch auf. – Nach einer Weile erschien in der Stube ein neuer biederer Mann, der Fleischbeschauer mit Mikroskop u. einem Stück Nierenzapfen. Er brachte eine Reihe winziger Häppchen auf das Glas, die er lange besah. Inzwischen zog auch der Schlächtermeister ein, Gedärme u. innere Organe in einer Holzwanne bringend. Zubereiten der Därme u. das Wurstmachen begannen. Die Kinder ( * Juri k , * Marka, eine kleine Freundin, der cugino 3 ) nahmen begeisterten z. T. tätigen Anteil. Wir sahen lange zu, ehe wir uns vor dem dumpfen Fleischgeruch zurückzogen. (Um diese Zeit war schon der abgekochte Schweinskopf aufgetaucht, u. die Kinder bekamen gleich etwas Wellfleisch. Und jetzt soll ich die fertigen Würste ansehen) – Das Interessanteste aber waren die Gespräche mit den Leuten. Natürlich der Krieg. Beide, besonders der Trichinenmann, sprachen mit vollkomener Selbstverständlichkeit u. Ruhe darüber, daß der Krieg absolut verloren sei, aber er könne wohl noch ein Vierteljahr dauern, da sich das Volk in den Großstädten unbegreiflicherweise all dieses Elend gefallen ließe u. offenbar wehrlos sei. Der Beschauer sagte weiter, er wünsche sich jeden Tag, die Russen möchten schon hier sein, dann würde man Ruhe haben. An die russische Grausamkeit glaube er nicht. Gewiß, sie hätten in den Dörfern einzelne Funktionäre erschossen, aber sie hätten genaue Listen, u. alle Nichtverzeichneten blieben unbehelligt. Auch habe er von Soldaten – Augenzeugen – gehört: gewiß, es seien deutsche SS-Leute mit abgeschnittenem Geschlechtsteil gefunden worden – aber erst nachdem SS den totgeschlagenen Flintenweibern (Frauenbataillonen) Bajonette in die Geschlechtsteile gespießt u. ihre roten Kopftücher darauf gehängt habe. Und was nun die Terrorangriffe auf unsere Städte anlange – wie sei es mit V 2 u. vorher mit Coventry 4 u. London, u. mit * Hitlers Erklärung, er werde die engl. Städte ausradieren??? (Dies Radieren höre ich nun schon das zweitemal auf dem Dorf! – Und die absolute Nutzlosigkeit unseres Widerstandes zeige sich auch – u. davon hörte ich das allererste Wort hier beim Schweineschlachten! – in der Kriegserklärung der Türkei . 1 Seit dem 1. III. marschierten 25 frische u. tüchtige Divisionen gegen Deutschland, wahrscheinlich gegen Wien , u. die Russen dürften entsprechend über Südostsachsen (Zittau) auf Prag stoßen. Nur eben: drei Monate, aber mehr nicht!, könne der unsinnige Krieg doch noch dauern ...
    Nach Tisch gegen 24 h .
    Ein prachtvolles Mittagbrod: fette Kartoffelsuppe mit Wellfleisch u. Sauerkraut; ich staune über die Tüchtigkeit meines Magens u. die Genußfähigkeit meiner Nerven so dicht am Abgrund. Aber ein wenig Hoffnung glimmt eben immer wieder auf. Wir sollten auch noch von den Würsten essen, die im Kessel fertig wurden, aber das ging vorderhand nicht mehr. In der Wohnstube wurde die Fleischarbeit bis vor wenigen Minuten fortgesetzt; nach den Würsten kam die Zerlegung der sauber glänzenden großen Schweinshälften. Die Kinder immerfort essend u. stopfend um das Werk herum. Besonders * Jurik ist wie in einem animalischen Rausch. Noch Blutflecken am Kinn, immerzu fressend, einmal traf ich ihn, wie er von zwei aneinandergelegten Würsten auf einmal fraß. Dabei immer strahlend, lachend, albernd, grob gegen die * Marka u. überall herumwuselnd. Aus irgendeinem Grund – * Mutter u. Kinder sprechen nur

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