Klemperer, Viktor
unter größter Gefahr etc. Andrerseits gefällt mir, daß er – bisher – nicht in besonderem Patriotismus macht, u. daß er niemals Angstlosigkeit vorspielt – anzi! Er bestätigt überall mit vollkomener Offenheit das * Schnitzlerwort: ‹Was wäre das ganze Heldentum, wenn man nicht solche Angst hätte!›
Falkenstein im Vogtland. In Scherners Apotheke. Mittwoch Vorm. 7. März 45 .
Überblick Sonntag 4 Mi. 7/III : Piskowitz ab 14h. Pirna an 23 h. Bei * Annemarie u. * Dressel: Nacht.
Mo 5. III . 10–12 Im Bombenkeller der Klinik. 14 h. Fahrtbeginn nach Falkenstein. Nachts im Zuge angegriffen.
Di. 6. III Morgens Frühstück Zwotental. 11–13. Güterzug Falkenstein. In * Scherners Apotheke.
Seit wir hier untergekomen, dürften meine Chancen des Überlebens einigermaßen auf 50 % gestiegen sein. Meinen Mss. in Pirna aber, die nun keinerlei Copie mehr haben u. alle Abeit u. alle Tagebücher umfassen, gebe ich höchstens 10 % Chance.
Nun der Reihe nach .
Ich war am Sonntag in Piskowitz eben mit meinen Notizen fertig geworden, da stand der * Bürgermeister im Zimmer u. sagte ohne Umschweife, ja also um zwei Uhr müßten wir fort; auf unsere Einwendung u. Bitte, wir seien privat untergekomen: es sei strikter Befehl, es tue ihm leid, aber .. Wenn wir sonst irgendwo Freunde hätten, brauchten wir uns nicht dem Sameltransport in die Bayreuther Gegend anschließen. * E. sagte, diese Sameltransporte seien besserer Mord, die Bomber vernichteten sie auf Bahnhöfen u. in Gemeinschaftsunterkünften (so in Berlin, so in Dresden in der Technischen Hochschule u. auf dem Hauptbahnhof). Krahl stimmte zu. E. ließ sich dann von ihm noch Lebensmittelkarten geben, er verhielt sich freundlich, wollte uns Bezugsschein auf eine Hose nachschicken lassen, sobald wir eine neue Adresse angäben. * Agnes war buchstäblich aufgelöst. Einmal u. hauptsächlich aus wirklicher Liebe für uns u. Sorge um uns; dann auch aus Sorge vor anderer (militärischer) Einquartierung. Sie stopfte zu Mittag u. frühem Kaffee noch in uns hinein, was sie an guten Dingen (Schwein u. Plinzku) dahatte, packte uns auch noch Proviant ein. Ich überlud mir den Magen, ich wußte, der Hunger würde nachkomen, u. das tat er denn auch. Um zwei Uhr bei scheußlichem Schneefall brachte uns Agnes mit * Marka – * Jury war irgendwie abwesend – zu einem Nachbarshaus. Dort wartete schon eine Flüchtlingsfrau. Es kam dann ein offener kleiner bereits halbvoller Leiterwagen, ein schon ganz voller fuhr voran. Auf unserem Wagen drängten wir uns zwischen Koffern, Bündeln u. vor allem, die allzubreite Mittelachse bildend, drei Kinderwagen: acht Erwachsene ( mit den Kutscher inbegriffen) u. 4 Kinder; in den Kinderwagen lagen noch stark zugedeckt drei Säuglinge. Die Weiber – Männer gab es bei uns keine – waren aufgeregt, hastig u. grob; es wäre nicht schön gewesen in ihrer Gesellschaft zu bleiben. Mit dem voranfahrenden Wagen zusamen bildeten wir durchaus solchen Treck, wie wir ihn oft gesehen hatten. Jetzt waren wir selber also auch ausgebombte u. evakuierte Flüchtlinge. Die Fahrt ging schrittweise, dauerte länger als unser Fußmarsch Kamenz–Piskowitz. Wir repetierten die Landschaftsbilder; der Schnee machte sie bedeutender. Bei Großbaselitz standen jetzt auf dem Acker in den neulich gebauten Stellungen drei Flakgeschütze, schwere mit mächtig ragenden Rohren. Ein kleines Mädchen neben mir, jamerte, sie müsse austreten; die Mutter meinte, da sei jetzt kein Durchkomen, u. das Kind weinte in verstärktem Maß die ganze letzte Wegstrecke. Bis es schließlich in Kamenz, dicht vor dem Bahnhof, doch über alle Hindernisse hinweg laut heulend herausstürzte u. mit einer Erwachsenen verschwand. Gleich darauf wurden wir vor einer Auffangstelle dicht am Bhf. ausgeladen u. trennten uns sofort von der Gruppe. Auf dem Bhf. das uns schon bekannte Gedränge. Es war etwa 16 h. * E. nahm Billette nach Pirna, u. bald darauf fuhren wir ab, im Schneckentempo u. mit immer neuen Aufenthalten. Ob wir zweimal umgestiegen sind, in Arnsdorf u. Dürr-Röhrsdorf oder einmal nur verkehrterweise den Zug verließen, um in ihn zurückzukehren, weiß ich nicht mehr. Wo unter den zahllosen – alle um die gleichen Themen Ausbombung u. Flüchtlingsnot rotierenden – selbstgeführten u. aufgeschnappten Gesprächen u. Gesprächsbrocken dieser fast 24stündigen Reise bis hierher, die voces populi laut wurden, sie sich mir einprägten, weiß ich nicht mehr. Alles klagte. Aber ein
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