Klemperer, Viktor
eigene Faust hinübergekommen seien, und nach einer Pause, er könne auch einmal versuchen, ob ich auf der Kommandantur nicht vielleicht doch einen Pass bekäme. Wir fuhren also dorthin. Es war grosses Gewimmel in vielen Zimmern. R. kannte gleich das richtige Loch und die richtige Dolmetscherin. Inzwischen wartete * E. draussen auf einem Rasenplatz. Ich merkte sofort, dass eine Menge Leute sich um den gleichen Passierschein bemühte, es konnte also also kein allzu striktes generelles Verbot vorliegen. Die Dolmetscherin verwechselte mich einigermassen mit * Otto Kl. und machte einen Musikprofessor und Besitzer einer Farm bei Dresden aus mir. Nach einigem Warten erhielt ich denn auch meinen Passierschein, den ich – s.u. – nicht ein einzigesmal gebraucht habe. Ich weiss nicht, wo das berüchtigte Niemandsland, ich weiss nicht wo die eigentliche russische Zone begann, ich bin weder von Soldaten noch von Plünderern im geringsten belästigt worden ... Den Pass hatten wir und sollten nun auch von einer Speditionsfirma nach Schönheide mitgenommen werden. SOLLTEN. Aber diese bestimmt dorthin fahrende und Leute mit Passagierschein gern mitnehmende Firma fuhr überhaupt nicht in diese Richtung, und Privatautos, hiess es, scheuten noch die Unsicherheit des Niemandslandes, und so mussten wir die etwa 18 km zur SOLLTEBahnstation wieder tippeln. Als Mahlzeit bekamen wir in Auerbach mit Müh und Not und Kampf wieder Rübenschnitzel, Läden zum Einkaufen waren geschlossen, in Mittagsglut wurde losgewandert. Ein Pferdewagen half über die böseste Nachtischstunde, so kamen wir nach Rodewisch. Das Weitere habe ich handschriftlich unterwegs festgehalten. In Rodewisch glückte der Brodkauf, in Rützengrün schenkten uns freundliche Krämersleute einen Topf Kaffee, den wir auf der Treppe tranken, dort tauschte * E. auch gegen Zucker von einer Frau Tabak ein, in Schnarrtanne sah ich den letzten amerikanischen Posten – er liess Kinder auf sich herumklettern, als wäre er ein gutmütiger Bernhardinerhund. Dieser Weg nach Schnarrtanne und dann nach Schönheide weiter war so baedekerhaft und bildschön und gefundenes Touristenfressen, wie neulich der Lupinenweg. Aber das stieg und stieg und stieg, und ich war bei ständiger Hitze so sehr von Kräften. Und schliesslich noch die weite Strecke von Schönheide nach Schönheider Hammer. Aber da war der Bahnanschluss wirklich erreicht. Wir übernachteten im Carlshof, ohne Verpflegung, ohne Möglichkeit, aus den Kleidern zu kommen. Das habe ich am andern Morgen an Ort und Stelle (im Garten des Gesellschaftshauses) notiert.
Der dreizehnte Tag also: Do 7. Juni, Strecke Falkenstein–Schönheiderhamer.
Der vierzehnte und vorletzte Reisetag ist durch trocken Brod und Wasser ausgezeichnet. Und durch den Fanatismus der durchweg überreizten kleinen Flüchtlingsleute in dem Carlshof. Eine Frau, Breslauerin, schimpfte fanatisch auf * Hitler, eine andere, die vor den Russen geflohen war, schimpfte ebenso fanatisch auf die Russen und erklärte alle deutschen Greueltaten in Russland für Lügen und Hetzpropaganda – niemals hätte ein deutscher Soldat geplündert oder sonst etwas Böses begangen ... Wir hielten uns abseits und sassen im Garten des Lokals oder am Bahnrand, bis endlich der Zug kam, ein richtiger Personenzug, für den wir sogar Billette zweiter Klasse hatten lösen müssen. Wir waren nach dreiviertel Stunden in Aue, das mir vom Zug aus eine grössere Stadt schien, ich eroberte im Wartesaal die famosen Rübenschnitzel – leider widerstanden sie E diesmal –, wir waren um halbvier in Chemnitz – die Zerstörung dort und das Caféhaus und die Wanderung in den Vorort, wo wir übernachteten, habe ich beschrieben. (Tgb. vom 8. und 9. Juni).
Vierzehnter Reisetag also war Freitag 8. Juni, Strecke Schönheiderhammer–Chemnitz.
Am Sonnabend dem 9. Juni, war ich vormittags bei[m] Friseur und liess mich scheren, dann warteten wir – ungegessen, nachdem alle Versuche ein Mittagbrod zu erhalten, gescheitert waren, sehr skeptisch unter einer Riesenmenge auf dem Bahnhof. Wären wir nicht befördert worden, so wären wir zu Fuss gegangen. Das Weitere habe ich notiert, und am
Morgen des fünfzehnten Reisetages, am Sonntag d. 10. Juni, waren wir also in Dresden.
Aber eigentlich gehört dieser Sonntag auch noch zur Heimreise, denn er brachte ja den märchenhaften Umschwung. Der Tag begann trübe genug. Wir wanderten müde und hungrig zum Neustädter Bahnhof –
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