Klemperer, Viktor
dieser Autostrasse 7 km. ab, kamen danbei einem Dorf Pirk, 17 km von Hof entfernt und schon in der Amtshauptmannschaft Plauen gelegen an eine riesige halbfertige Au[to]strassenüberführung, die wie ein antiker Viadukt aussah, ebenso grandios und eb[e]nso ruinenhaft – sie schien mir ein Symbol der nazistischen Hybris. Es war ein romantischer Ort, den ich bildmässig nur noch ungefähr und verschwommen vor mir sehe. Hoch oben dieser Viadukt, unten auf unserm Weg eine zerstörte kleine Brücke über irgend ein Gewässer. Wir fanden hier irgendwo ein Gasthaus, das ein bisschen Getränk abgab, wir gingen dann auf wunderschönen Park- und Touristenwegen bis tief in den Abend weiter. Die Dörfer lagen alle voll von Soldaten, aber zuletzt hatten wir Glück, fast eine Erinnerung an unsere beste bayrische Zeit: In dem ganz waldumschlossenen Dorf Magwitz kamen wir in einem wohlhabenden und wohlwollenden Bauerngehöft gut unter, wir wurden ausgezeichnet verpflegt, wir schliefen in einer grossen Scheune, konnten uns ziemlich weit auskleiden und am nächsten Morgen waschen – * E. wusch sich sogar die Haare. (Es ist mir peinlich, immer wieder so genau vom Essen reden zu müssen, aber es war doch das Wichtigste und schwierigste unterwegs. Übrigens geht mir bei der ewigen Variation dieses Themas natürlich schon alles durcheinander. Ich erinnere mich unserer Beglücktheit, als wir in einer zur Verpflegstation eingerichteten Fabrik – nicht in Hof, dicht vorher od dicht nachher – eine besonders nahrhafte und reichliche Suppe vorgesetzt erhielten. Ich berechnete und zerteilte den Tag nach den Mahlzeiten, und wenn eine gut ausfiel, so hob das den Mut und stärkte wirklich, und wenn wir auf Kaffee oder Bier und trocken Brod angewiesen waren, und wenn gar, wie das immer häufiger eintrat, alles Getränk fehlte und nur das Brod blieb, so schwächte und deprimierte das ungemein.)
Der zehnte Tag, Mo. 4. Juni, führte also von Feilitzsch–Magwitz.
Am elften Tag, Dienstag dem 5. Juni, brachen wir spät, erst um 8 h, auf, E. mit gewaschenem Haar, ich rasiert. Wir durften nichts zahlen, es war wirklich oberbayrisch. Aber dan[n] lernten wir die Not des Vogtlandes bis zum Excess kennen. Doch das ist ein Vorgreifen. Erst wanderten wir noch in der üblichen Art dieses zweiten Reiseabschnitts. Wir kamen dichter an Plauen heran, als in unserer Absicht lag, wir fanden dann eine Strasse nach Ölsnitz 3 und in diesem langen und öden Ort eine Flüchtlingsschule, die uns mit Brod und Suppe verpflegte. Vom frühen Nachmittag an ging es dan[n] durch schöne Erzgebirgsgegenden, die nun schon zum näheren Falkensteiner Bezirk gehörten, und die wir teils hatten nennen hören, teils wirklich schon kannten. Einmal nahm uns nach langer Zeit wieder ein Pferdewagen mit, einmal, im Gasthaus Tirpersdorf fa[n]den wir nicht nur eine grosse Kanne Kaffee, sondern auch ein süddeutsches Nachrichtenblatt, die Hessische Post vom 26. Mai. Der eigentliche Schlussakt des Krieges ist uns ja bis auf den heutigen Tag dunkel geblieben. Ein landschaftlicher Höhepunkt – sind wir einmal in früheren Jahren mit Scherners im Wagen hier gewesen oder nicht, ich glaube, ja – war die Thalsperre Poppengrün. Bis Neustadt, das wir nach sieben erreichten, sind wir gewiss im März gekommen. Dort fütterte uns die Frau Bürgermeisterin mit einer Kartoffelsuppe. Danach war uns jeder Landstrassenschritt vertraut. Um halbneun waren wir in Falkenstein. * Scherners Apotheke war leicht angeschlagen, ihr Privathaus schwerer. Geschützfeuer der Amerikaner, wie wir später erfuhren. Wir riefen und klatschten vor dem verschlossenen Haus. * Trude Sch. öffnete, er selbst war mit seinem * Uhlmännchen auf Wareneinkauf nach Leipzig gefahren, er kam um zehn, als wir gerade aufbrechen wollten, triumphierend zurück, er hatte statt für die bewilligten 200, für 10 000 M. einkaufen können, er war jetzt nach der völligen Zerstörung der anderen Apotheke sozusagen Monopolinhaber. Grosse Herzlichkeit, grosse Bewirtung, vieles Durcheinandererzählen, und erst um elf, der hier gültigen Sperrstunde, lagen wir auf unsern alten Ruhestätten im Privatcontor der Apotheke. Dort war das * Hitlerbild verschwunden und durch eine Landschaft ersetzt. Sch. erzählte, wie unmittelbar vorm Einmarsch der Amerikaner (die Stadt hat 14 Tage unter Feuer gelegen) Parteileute bei ihm gewesen, und ihn gezwungen hatten, alle nazistischen Bücher, die er vordem zwangsweise hatte kaufen müssen, und die er nun
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