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Klemperer, Viktor

Klemperer, Viktor

Titel: Klemperer, Viktor Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Die Tagebücher
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Tiefstrasse. Um acht waren wir in Feilitzsch, dem ersten Dorf mit sächsischem Namen – wo die Grenze zwischen Bayern und Sachsen von uns überschritten wurde, kann ich nicht angeben. (Tags zuvor hatte * E. einmal den Satz aufgefangen: s derfat Spinat (Paroxytonon 2 ) sein. Dialekte gehen ineinander über, auch die Infiltrierung der Industrie in die ländlichen Bezirke ist eine tropfenweise – in Oberbayern ist das Dorf nichts als Bauerndorf, höchstens mit dem Schornstein einer Sägemühle darin, in Sachsen od. doch im Vogtlang ist das Dorf nur eine Ansammlung von Textilbetrieben, dazwischen liegt als Übergang und Mischbildung die Oberpfalz. Von Feilitzsch aus sollte ein Zug nach Plauen gehen. Sollte – aber niemand wusste und weiss ja noch heute in Deutschland mit Genauigkeit, was in einem halben Dutzend Km. von seinem Ort aus wirklich der Fall ist, welches Gesetz gilt, welche Ordnung, Möglichkeit usw. usw. besteht. Auf dem Bahnhof erfuhr ich, dass ein Zug hier nicht durchkomme. Nur eine Lokomotive werde um 13,30 passieren, aber da ich doch * Kurier des Zaren 3 sei (meine fragwürdigen Zettel und Papiere taten Wunder), so solle ich mitgenommen werden. Wir freuten uns, sahen uns fast am Ziel der Fahrt, denn zwischen Plauen und Falkenstein würde sich schon ein Auto finden, und in Falkenstein wollten wir triumphaliter ausruhen bis sich Fahrgelegenheit nach Dresden fand – wir freuten uns also und schoben pede laeto 4 den aufoktroyierten halben Rasttag ein. D. h. wir frühstückten ausführlich im Dorfgasthaus (ausführlich heisst in diesem Fall: wir bekamen schwarzen Kaffee und assen unsere Brodreste dazu), und gingen dann anderthalb km. weit zum Dorf Trozen, 5 wo sich ein Auffanglager befand. Das war ein Jugendarbeitslager des dritten Reichs gewesen, sehr hübsch angelegt: grosse saubere Baracken um einen viereckigen mächtigen Platz, Rasen und allerhand Grün, herum, an den Wänden allerhand Moralsprüche des Nazismus. Jetzt lagen in den ausgeräumten Baracken S[t]rohbündel, es standen nur noch ein paar Tische ohne Stühle darin, alles war wüst, ohne die ehemalige Hübschheit ganz abgestreift zu haben. Und merkwürdigerweise gab es in diesem Lager auch noch richtige Verpflegung, Brod, Suppe Kaffee. Man wurde gefragt: Sind Sie von den Tschechen ganz ausgeplündert? Andernfalls zahlen Sie bitte (eine ganz geringe Groschensumme) Dies Lager Tro[g]en (in dem mir ein junger Marinearzt viel Höflichkeit erwies) ist das letzte gewes[e]n, in dem ich noch so etwas wie staatliche Ordnung und Hilfe fand, nachher griffen Chaos und Hunger oder Hungernlassen immer mehr um sich. Wir ruhten uns entspannt aus, lagerten eine Weile am hohen Strassenrand über dem RAD-Lager, 1 gingen dann langsam und siegesgewiss zum Bahnhof Feilitzsch zurück. Dort hatte sich inzwischen ein Häufchen Militär angefunden, ich fragte mich, wie eine einzelne Lokomotive uns alle mitnehmen solle. Der Telegraph meldete sie, alles stellte sich zurecht. Es erschien eine Lokomotive mit angehängtem hohe[m] fest geschlossenem Kohlentender[.] Auf den Kohlen saßen, im Lokomotivstand standen eine Unmenge Soldaten (von Hof her), ein paar junge Kerle kletterten wie die Affen im Nu, von ihren Kameraden unterstützt, auf den Kohlentender, es war ein Gewirr und Geschrei, ich brüllte meinen Capo an, der seinerseits eine hilflose Figur machte, und schon setzte sich die Lokomotive wieder in Bewegung, und die Nichtmitgekommenen zogen resigniert ab. Ich wütete gegen den Capo, aber davon wurde nichts anders, und um zwei Uhr etwa nahmen wir also unsere Fusswanderung wieder auf. * E hoffte an Plauen vorbei abkürzend auf Falkenstein vorstossen zu können, das ist aber, wenigstens teilweise[,] am Mangel einer Karte gescheitert. Landschaftlich waren wir wunderschön daran – nur eben, na ja .. Eine einstreifig ausgebaute Autobahn, der unfertige Streifen von üppig wuchernder Natur zurückgenommen, Blumenflor, Wald, Höhe, Fernblick, todo y todo, 2 nur Frische fehlte, und alle Glieder schmerzten. Autos verkehrten nicht, dageg[e]n trafen wir auf einen langen Treck. Woher? wohin? im März war die Treckbewegung eindeutig gewesen – man floh vom Osten nach Bayern. Aber jetzt? Einige flohen aus der Tschechei nach Bayern oder irgendwohin ins Reich, andere suchten von ihren Evakuationspunkten in ihre Heimat zurückzukehren. (Es ist ja auch jetzt noch (am 2. Juli) ein Tohuwabohu auf Landstrassen und Bahnhöfen, zumal DER Pole keinen Deutschen hereinlässt.) Wir tippelten auf

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