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Klemperer, Viktor

Klemperer, Viktor

Titel: Klemperer, Viktor Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Die Tagebücher
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Chemnitz, 9. Juni 45.
    Die dritte Klasse nach Chemnitz war gestern ausverkauft, ich mußte gestern zweite Klasse lösen u. bekam falsche Umsteigeauskunft dazu, die nachher unnötigen Ärger in Aue verursachte. Ärgerlich war dort auch, daß * E. die schwer erkämpften Rübenschnitzel des Wartesaals widerstanden. Immerhin, der Zug, ein richtiger Personenzug mit Polsterklasse u. regulär gelöstem Billet, brachte uns in freilich überstopftem Abteil bis nach Chemnitz Süd, in der Zeit von 11 bis ½ 4, wo rin rin anderthalb Stunden Aufenthalt in Aue eingerechnet sind. Aue schien mir eine größere Stadt als Falkenstein od. Auerbach. Während der Fahrt gewitterte es, ohne daß die Schwüle aufhörte. Und schon unterwegs hörten wir, daß der Verkehr nach Dresden nicht, wie am Schalter aushing, gänzlich unterbrochen sei, sondern von einem Vorort, vielleicht schon von Hilbersdorf aus, funktioniere. Auf dem Bhf. Süd lagerten mit Gepäck, Wagen, Betten etc. Flüchtlinge – das übliche Bild. Die Innenstadt Chemnitz schien ganz zerstört, viele Häuser standen zwar, waren aber unbewohnt u. unbewohnbar, dazwischen Ruinen, Schutthaufen, irgendwo ein großer Platz mit nichts als Geröll u. einem riesigen Candelaber, der unversehrt hervorragte – im Ganzen das übliche Bild. Unüblich, absolut neu, wurde es für uns durch die russische Besatzung u. ihren ungeheuren Contrast zur amerikanischen.
    In München etc. das unaufhörliche Jagen der Militärkolonnen u. Einzelautos des Militärs. Hier Stille, ich sah kein Militärauto, kaum einen einzelnen Soldaten (den Abend im Gasthof ausgenommen) nur ein paar private Lastautos mit roten Flaggen. Dafür befremdete die russische Schrift der Auto-Straßenschilder u. verblüffte die ungeheure u. consequente Art der Spruchpropaganda gegen die Natsoc. Hier (u. nachher noch einmal am eigenen Leib) wurde mir so recht eindringlich klar, was ich längst wußte u. was nun bloß die conkreteste Greifbarkeit für meine LTI annahm: die Identität von Natsoc. u. Bolsch., u. daß die Natsoc. alles von Moskau gelernt haben. In München sah ich die eine u. bescheidene Kreideanschrift der Feldherrnhalle: ich schäme mich etc. Ich sah auch auf kleinen Militärautos die Worte: alles kaputt. Eine Zeitung brachte eine Aachener Ruine mit dem angehefteten Plakat: Gebt mir fünf Jahre Zeit ... Das waren Einzelheiten u. sozusagen private Äußerungen u. Einfälle. Hier aber gibt es offizielle, sozusagen serienweise aufgezogene Druckplakate in genauer Entsprechung der natsoz. Werbe- u. Aushalteplakate, wie sie an den Häusern u. Schaufenstern klebten. Gelbe Streifen mit großer deutlichster schwarzer Druckschrift: Das dritte Reich ist der Hölle gleich – Daß wir hungern, danken wir dem * Führer – Gebt mir zehn Jahre Zeit, u. ihr werdet Deutschland nicht wiedererkennen. Den stärksten Eindruck machte mir dies: eine Reihe von Arbeitern schaufelte von der Straße Geröll fort. (Sie machten übrigens keinen gehetzten oder verbitterten Eindruck.) Auf dem Schutthaufen stand eine Plakattafel: Nazi (sic) beseitigen die Trümmer des tausendjährigen Reiches. – Ein anderer noch eklatanterer Gegensatz zur USA-Zone. In München die jämerliche Kaffeeausschank-Baracke am Stachus, die erbärmliche Imbisshalle, sonst noch alles geschlossen, u. überall anders auf am. Seite der gleiche Zustand. Hier ganz offenbar im Allgemeinen auch alle Restaurants u. Cafés zerstört, außer Betrieb. Dann sahen wir vor einem halbzerstörten Haus ein Häufchen Leute stehen, es scheint irgendein Lager zu sein, wir fragen, ob man hier eine Tasse Kaffee bekome u. werden in den ersten Stock gewiesen. Dort, Erscheinung wie aus einer versunkenen Welt, in einem langen Saal das elegante Musikcafé des Vorkriegs. Weißgedeckte Tische, alle eng besetzt – man gibt Garderobe draußen ab! – Geschirr in Menge (allerdings keine Löffel), befrackte Kellner, Kaffee in Kännchen, Brambacher Mineral, Bier, Mokkatassen schienen sogar auf echten Kaffee hinzuweisen, eine Jazzkapelle, so negroid als möglich, beginnende Eleganz gemalter Cocotten, beginnende Inflationspreise: es war der Anfang des Treibens von 1919, der Hurrawirleben- u. Schieberstimmung, aber alles doch ungleich grausiger u. erschütternder u. jämerlicher als damals, denn das Haus war zerstört u. der Saal zurechtgeflickt, daß man stolperte, u. die Stadt ringsum liegt in Trümern, u. was zu Nepppreisen geboten wird, ist Ersatz u. Elend u. mildert den Hunger nicht, überflittert ihn

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