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Klemperer, Viktor

Klemperer, Viktor

Titel: Klemperer, Viktor Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Die Tagebücher
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alter sehr schweigsamer, seh[r] behutsamer Herr, in allem das fast komische [W]iderspiel des lebhaften Is.; aber offenbar ein überaus gewissenhafter Mann, auch menschlich sympathisch – ein Hitlerbild ist nirgends bei ihm zu entdecken. Er reinigte die Wunde sorgfältig u. schuf E. Erleichterung. (Inzwischen sind wir heute das zweitemal dagewesen, u. die Behandlung wird sich noch hinziehen – was denn die Geldsorgen nicht verringert.)
    Wir waren am Montag um vier beim Arzt fertig, und nun fuhr ich E. zur Erholung spazieren; den Sonntag unseren sonstigen Ausflugstag, hatte sie mit vielen Schmerzen und auch mit ernstlichen Fieber gelegen. Die alte schöne und doch eigentlich schönste Strecke nach Kipsdorf und Altenberg bis hinauf ins Raupennest, wo wir bei der Bouillon, bzw. einem kleinen Kümmel rasteten. Besonders schön ist der Blick in dem Augenb Moment, wo man auf der Höhe aus dem Wald herauskommt. Da liegt der charakteristische Geising nah und stattlich da. Von der Terrasse des Raupennestes selber sieht man weit ins Land und auf allerhand Bergketten, aber der Geising ist verschwunden, [ e ]wenigstens i in seiner charakteristischen Form und mit seinem Schornstein, alias Aussichtsturm. Ein sehr drohendes Gewitter zog herauf – es gewittert seit langem fast täglich –, und wir fuhren zurück. Als die ersten Tropfen kamen, rief uns ein gut aussehender Papa mit zwei Kindern an, ihn mitzunehmen; er wollte nach Oberbärenburg. Wir nahmen die drei auf, es begann zu giessen, wir schlossen das Verdeck, e[s] kam ein solcher Wolkenbruch mit heftigstem Gewitter, dass ich eine Weile mit eingeschalteten Lampen stillhielt. Immer noch bei strömendem Guss setzten wir die Familie beim Warteh[äu]schen der Baukare 1 ab. In Possendorf, kurz nach Sieben und Ladenschluss, liess ich den Wagen auf der Hauptstr stehen u. wanderte weit durch den erstaunlich langen Ort zu einer grossen Molkerei, wo ich noch Quark für unser Abendessen fand. (Unsere Verpflegung wird immer einfacher, um Geld zu sparen und um die stundenlange Mühe des Abwaschens zu verkürzen. Wir haben die Povertät und gräuliche Enge schon recht, recht sehr satt.)
    Gestern kurz vor Abend eine Weile in der Blumenausstellung, heut Mittag vom * Arzt (Arzt und Zahnarzt in Personalunion, Spezialist für Kiefersachen) wieder dort, diesmal in dem Sonderteil der einschlägigen Industrie: Gewächshäuser, Beregner etc. Dabei hörten wir im Radio die Schlussitzung des Freizeit-Congresses in Hamburg, Danksagungen in gebrochenstem Deutsch, eine in widerwärtig nasal und gezischt klingendem Chinesisch, dann eine lange Rede von * Goebbels. Ich hörte den giftigsten und verlogensten aller Nazis das erstemal und war doppelt erstaunt über seinen Bass und über die pastorale Gesalbtheit und Herztönigkeit seines Vortrags. Der Visage u. Gesinnung nach hatte ich geglaubt, er müsse hell, schneidig und schnoddrig sprechen. Es muss aber seine gewöhnliche Art sein, in der er vortrug, denn eine vorübergehende Dame sagte zu ihrem Begleiter: Das ist doch Goebbels! Er begann mit dem * Dehmelschen Gedicht 2 : vom Arbeitsmann: ... uns fehlt nur Zeit! Dehmel als Dichter und Prophet der Nazis! (Meine Beziehungen zu Dehmel: Der Schwiegersohn des alten * Rabbiners Oppenheimer; der Mann in dessen Haus * Hans Scherner Hauslehrer war, der Mann, den ich das Gedicht von der schwimmenden Rose förmlich tanzen sah ..)
    Vorige Woche war einen Nachmittag * Gehrig bei uns; sich wegen einer geplanten Südamerikareise erkundigen. Wir sind sehr lange ausser Connex gewesen. Er machte auf uns beide einen sehr guten Eindruck: ruhiger und weniger autoritär als früher. Auch er mag nichts mehr vom Prophezeien wissen: es kann noch sehr lange dauern, es kann sehr plötzlich zuende gehen. Er erzählte, der sächsische * Kronprinz 3 habe ihn Anfang November 18 gefragt, was er von der inneren Lage halte; er, Gehrig habe geantwortet, die Arbeiterschaft sei ja wohl unzufrieden, aber eine Revolution halte er für ausgeschlossen.
    Ich arbeitete gestern und heut den Encyklopaedie-Artikel * Rousseaus: Economie politique 4 durch: ganze Stücke daraus könnten in * Hitlers Reden stehen.
    Die Grundzüge meiner Studie sind mir klar: Die Flucht aus der Gegenwart und vor sich selber in drei divergierenden Richtungen: zur Natur, zu Gott, zum spartanischen Staat, die Prostitution der Vernunft im Dienst des subjektiven Gefühls, die romantische Sehnsucht, die Verstandesbildung im Sinn des 18. Jh.s formal wie substantiell, die

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