Klemperer, Viktor
um deren unsterbliche Seelen bestellt ist.
Das historische Erlebnis dieses Jahres ist unendlich viel bitterer u. verzweiflungsvoller, als es der Krieg war. Man ist tiefer gesunken.
Nach der * Marie * Antoinette – genau notiert – las ich * Diderots Religieuse 1 vor, dann * Goethes Großcophta. 2 Immer schwebt mir vor, mein 18. Jh müßte allseitig werden, die ganze Geistesgeschichte der Zeit, nichts Partielles, u. müßte mein bestes Werk werde – u. immer wieder sage ich mir resigniert: es wird überhaupt nicht mehr. ( * Voßler schrieb mir leichthin, warum ich nicht im Ausland veröffentliche, etwa bei * Heitz in Straßburg. 3 Warum? Weil ich dann gewiß hier meinen Posten verlöre. Und es ist ja auch noch gar nichts zum Veröffentlichen da).
Ein anderer Lieblingswunsch, u. auch er geht nicht in Erfüllung: Die Geschichte meines Lebens.
Und der allerverzweifeltste Wunsch: das Haus in Dölzschen. Jetzt haben wir um Geld durch * Praetorius annoncieren lassen. Nur 6 000 M. u. wir bauen das Kleinsthaus. Aber niemandem bin ich sicher. – Auch steht Antwort von * Dember aus. Aber er wird mir kein Geld geben wollen; und wenn er will, so wird das Sperrconto nichts herauslassen.
Heute eine leichte Intermezzo-Lektüre begonnen: Falkenflug von * Sinclair Lewis. 4 Der Mann sieht gern die neunziger Jahre u. das erste Jahrzehnt des 20. Jh. s in Amerika historisch an. Und für USA ist das ja auch beinahe alte Geschichte.
Seit einem Monat, seit * E s erneutem Fußleiden, bin ich, wirtschaft[lich] überhäuft, fast gar nicht zu eigener Arbeit gekomen. Das Vorlesen aus meinem Arbeitskreis ist ein kleiner Ersatz.
1934
Montag Abend. 1/I. 34
Wir hatten zu Weihnachten für 20 Pf Tannenzweige auf dem Schirmständer montiert, mit elektrischen Birnchen u. bunten Kugeln. (Ein richtiger Baum weniger leicht transportabel und demontierbar, ist um der Katzenheit willen unangebracht). Wir steckten dies Bäumchen gestern um 12 Uhr an u. tranken ein[en] Whisky. Es war en so ganz friedliche Sylvesterfeier. Vorher hatte ich den anmutigen u. leichten * Sinclair Lewis vorgelesen. Auch heute hielten wir uns ganz still u. ich las die meiste Zeit unser Unterhaltungsbuch weiter vor. – Dazwischen Notizen. Zum * Großcophta , zu * Zweigs * Mesmer . Unter alledem aber doch mit Bedrücktheit u. Sorge. Zu all den großen Leiden komt als kleines u. doch sehr peinigendes immerfort der ständig verteuerte * Hueberprozeß. Am 3. I ist wieder ein Termin, der mich sehr viel kosten kann.
9. Januar Dienstag .
Gestern Abend wieder eine Besprechung mit * Praetorius. Die aberhundertste. Auch der Versuch, durch Inserat Baugeld zu beschaffen, blieb erfolglos. Jetzt ist letzte Hoffnung das Sperrconto * * Dembers. Mit Frau D. ist alles besprochen, zu Zwecken der Arbeitsbeschaffung läßt sich dort dort Geld freimachen – aber es bleibt fraglich, ob D. zustimmen wird. Seine Frau ist am 15. in Konstantinopel u. will dort mit ihm sprechen. Sie war dieser Tage noch einmal von Berlin aus hier u. besuchte uns. Sie ist gestern hier durchgefahren (Prag–Triest) u. der Hund – um seinetwillen wurde ist Schiffsweg gewählt worden – wurde ihr an die Bahn Bahn gebracht.
Im * Hueberprozeß wieder Verschiebung. Zum zweitenmal ist der Richter erkrankt u. die Affäre komt nun an den dritten Mann. (Seit October 32!) Seit einer Woche u. noch auf lange hinaus viel Zeitverlust, Quälerei u. Kosten durch Zahnbehandlung. Ich habe meinen biederen aber arischen alten * Petri leider aufgeben müssen, um Israel zu unterstützen. * Dr Isakowicz, Vater meiner Studentin * Lore I., die ihm manchmal assistiert.
13 Januar Sonnabend .
Nach fast einjähriger Pause am Mittwoch zum erstenmal wieder in Abteilungssitzung. Die neue Verfassung – der alte Senat, dem ich mich verpflichtet hatte, die Selbstverwaltung, die mein freiwilliges Ausscheiden schützen sollte existieren nicht mehr. Provisorische Neuordnung: Den Rektor ernennt das Ministerium; im Senat, den er benennt, u. der ihn nur zu beraten hat, sitzen zwei Studenten u. ein Vertreter des Studentischen SA = Amtes. Den Abteilungsvorsitzenden, den der Rektor ernennt, berät die Abteilung nur. In ihr, d.h. in der engeren Abteilung sind ebensoviele Nichtordinarien wie Ordinarien vertreten. Der Abt. Vors. benennt sie. Interessanter als diese Bestimmungen, war Art u. Inhalt unserer Beratung. Ort: das juristische Seminar, nebenan hört man ständig sprechen, gehen u. komen. Wir flüsterten , u. einer
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