Klemperer, Viktor
der jungen * * Köhlers. Die sind treu u. erbittert. Er erzählt aus dem Mädchengymnasium. Ein Mädel fragt ihn nach der Religionsstunde: wie sich Judenhaß mit dem Evangelium vertrage. Er, nach langem Zögern: aus dem Evangelium könne es man jede Richtung herauslesen. Einem andern Religionslehrer, SS-Mann, erklärt ein Mädel eine Arbeit aus dem Alten Testament nicht gemacht zu haben. Die Eltern hätten es ihr verboten. – Sie solle das schriftlich bringen. – Sie bringt es schriftlich. Die Sache ist zur Entscheidung ans Ministerium weitergeleitet.
31. XII Sonntag .
* * Wieghardts sollten Sylvester bei uns sein, wie wir Weihnachten bei ihnen waren. Inzwischen hat es so schweren Zwist gegeben, daß wir allein bleiben, und daß wohl der Verkehr mit W s ein endgiltiges Ende hat.
Vor Monaten bat mich Gusti W., ihr den Jean * Jacques Vingtras 1 aus Paris für meine Seminarbibl. zu bestellen. Das Buch handle von der Commune 1871. Ich kenne es nicht. Ich gab ihr die Bände, wie sie ankamen. Einige Zeit danach sagte sie: eigentlich hätte ich mich durch diese Bestellung einer Gefahr ausgesetzt, es sei ein sehr anarchistisches Buch. Am Weihnachtsabend bat ich sie um Rückgabe. Das könne sie nicht, sie habe es * * Neroslaw 2 s gegeben. Das sind ihre russisch-communistischen Freunde; Leute verkehren, wohnen bei ihnen, die schon mit Hohnstein vertraut sind; sie selber sind immer von Haussuchung bedroht. Am nächsten Morgen bat ich telephonisch, mir das Werk sogleich wiederzubringen, ich sei beunruhigt. (Ich habe ja auch gar kein Recht, ein Buch des Seminars derart auszuleihen; daß Gusti W. es weitergegeben hatte u. in diese Hände, war ein Vertrauensbruch.) Karl W. brachte den Vingtras u. ich sagte ihm meine Meinung. Am Freitag Telephongespräch: Komt Ihr Sylvester? – Es gibt ja doch bloß Krach – Nein, Friede auf Erden! Komt heute zum Abendkaffee, da streiten wir uns, u. Sylvester herrscht dann Eintracht. – Sie kommen, ich sage oder beginne Gusti sehr ruhig meine Stellungnahme zu erklären. Sie unterbricht mich mit nicht maßloser Heftigkeit u. Aggressivität, überschreit, beschimpft mich, will fortlaufen. Ich hole sie noch einmal ins Zimmer. Die Neroslaw hast Du mir selber als ein Schwein geschildert. – Wildester Ausbruch G. : Du selber bist ein Schwein, ein feiges Schwein! Usw. Da habe ich ihr die Thüre gewiesen.
Es muß auch dabei bleiben. Im letzten Jahr hat G. mehrfach ihre völlige Unzurechnungsfähigkeit u. Verranntheit u. Maßlosigkeit im Politischen bewiesen. Ich habe dem gegenüber immer wieder betont, daß ich im letzten Nationalsozialismus u. Komunismus gleichsetze: beide sind materialistisch u. tyrannisch, beide mißachten u. negieren die Freiheit des Geistes u. des Individuums.
Dies ist das charakteristischste Faktum des abgelaufenen Jahres, daß ich mich von zwei nahen Freunden trennen mußte, von * Thieme weil er Nationalsocialist, von Gusti W., weil sie Kommunistin wurde. Beide sind damit nicht einer politischen Partei beigetreten, sondern ihrer Menschenwürde verlustig gegangen.
Ereignisse des Jahres: Das politische Unglück seit dem 30. Januar, das uns persönlich immer härter in Mitleidenschaft zog.
* Evas sehr schlechter Gesundheits- u. Gemütszustand.
Der verzweifelte Kampf um das Haus.
Der Fortfall aller Publikationsmöglichkeit.
Die Vereinsamung. –
Im Juni schloß ich mein Frankreichbild ab, das nicht mehr veröffentlicht wurde. Dann nach ein paar Recensionen, insbesondere * Naigeon , nicht mehr publ., seit dem Juli Studien zum 18. Jh. Ich glaube nicht mehr, daß sie noch einmal mein 18. Jh. je zustande komt. Ich habe nicht mehr den Mut, ein so Unge Großes zu schreiben. Meine früheren Bände 1 erscheinen mir leichtfertig u. oberflächlich. Ist das Folge einer vorübergehenden Lähmung, ist es endgiltiges Fertigsein? Ich weiß es wirklich nicht.
Sehr, sehr viel vorgelesen. Amerikaner, Deutsche, in letzter Zeit auch 18. Jh.
Sehr viele Todesgedanken u. Haften an den allgemeinsten Fragen. Bisher erschien mir * Renans: Tout est possible, même Dieu 2 als ein spöttisches Witzwort. Ich nehme es jetzt für eigentliche u. für meine Religiösität. Welch Mangel an Ehrfurcht zu glauben u. nichtzuglauben! Beides beruht auf einem frechen Zutrauen zur eig menschlichen Fassungsmöglichkeit.
Wir werden heute Abend ganz allein sein. Ich fürchte mich ein bisschen davor. Trost u. Hilfe komt uns immer von unsern beiden Katerchen. Ich frage mich allen Ernstes tausendmal, wie es
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