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Klemperer, Viktor

Klemperer, Viktor

Titel: Klemperer, Viktor Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Die Tagebücher
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Und auch nachdem ich die Sache unternomen, hätte ich es zögernd u. widerwillig getan. Was soll ich dieser Anklage entgegensetzen? Konnte ich wissen, wie schrecklich die Dinge laufen würden, doppelt schrecklich, was E s Gesundheit u. was die politische Entwicklung anlangt, die mich mattsetzt? Und was habe ich seit der Rückkehr aus Lugano unversucht gelassen? Dennoch hat sie recht: vordem habe ich mich gesträubt. Die Belastung u. Bindung schien mir allzuschwer, meine Unerfahrenheit in Bauangelegenheiten zu gefährlich. – Als * Berthold mich damals im Stich ließ, hat er mich für den Rest meines Lebens unglücklich gemacht.
    Zu der seelischen Belastung tritt schwerste Hausarbeit. Mühselig bin ich dazu gelangt mein Montagscolleg in Stand zu setzen. Sonst war ich die ganze Woche nicht am Schreibtisch. Die * Aufwärterin komt öfter als sonst, aber das meiste liegt auf mir. Morgens drei Öfen heizen, die Katzen = Kästchen besorgen, ein bißchen abstauben, das Frühstück bereiten (allein das Aufschmieren der Butter für E. ist bei der Kälte eine zeitraubende Angelegenheit) – bis ich mit alledem fertig bin, ist es gegen 12. Und dann so weiter, u. viel vorlesen. Und glücklich, wenn es nicht um der geringsten Kleinigkeit willen Verzweiflungsausbrüche E s gibt, die mir buchstäblich auf das Herz hämmern. – Vor etlichen zwanzig [Jahren] hat mir einmal ein Dentist vergeblich eine n Zahnwurzel ziehen wollen. Als ich aufsprang, erklärte er entrüstet, er habe es viel schwerer als ich, ich brauchte nur stillzuhalten. Ich versetze mich immer wieder in * Evas Lage, aber manchmal denke ich verstehend an den Dentisten. Was ich aber immer mit besonders bösem Gewissen u. verstärktem Mitleid bezahle. –
    Mei In der Hochschule hat sich meine Lage verschlechtert. Im vorigen Semester übergab man die mündlichen P. I. = Prüfungen * Wengler. Jetzt weist das Sekretariat von mir gestellte schriftliche Prüfungsthemen zurück. Der Senat erklärt, hiergegen nichts machen zu können. Es handle sich um Staatsprüfungen, u. das Ministerium hat mich aus der Prüfungskomission zurückgezogen. Damit ist den Studenten geradezu die Möglichkeit des Wahlfachs Französisch genomen – dies der Zweck der Übung –, denn Wengler gibt ja nur italienischen Sprachunterricht u. ist den P. I.-Leuten ganz fremd. Ich werde Ostern keine Hörer mehr haben u. dann durch den § 6 (überflüssig) erledigt werden.
     

 
    15. XII Freitag .
    Die letzten Tage grauenvoll. * Eva, seit anderthalb Wochen zu Haus, fast immer bettlägerig, mit ihrer Nervenkraft zu Ende. Dazu die grausame Kälte – heute fror die Leitung im Badezimmer unterm schadhaften Dach zuschanden. Katastrophe der Ungewaschenheit. Meine Hände ganz u. gar wund. –
    Eine jammervolle Hoffnung. * * Dembers haben ihr Haus verkauft, das Geld liegt auf Sperrkonto. Ich bot ihnen an, es mir davon gegen höhere als Bankzinsen etwa 8 000 M. zu leihen. Dann könnnten wir ein Kleinsthaus bauen. Frau Dember, mit der ich gestern lange sprach, ist geneigt. Aber wird ihr Mann wollen, wird der Staat zustimmen? Beides fraglich. Inzwischen ist die Ausschachtung eines Kellerraumes vorgenomen , aber mit dem Bau dieses Souterrains muß natürlich auf Tauwetter gewartet werden.
    Ich war heute im Dorf Dölzschen, um irgend ein Schreiben im Rathaus abgeben u. bei demselben * Bauer Fischer, der uns das Land umgepflügt hat, Stroh für den Schacht der Wasserleitung bestellen. Prachtvoll die verschneiten glatten Felder, der Nebel in Ferne u. Tiefe, auch über der Hochebene, aber darüber der blaue Himmel. Irgendwie erinnerten mich die weißen Felder an Winterspaziergänge 1901 in Landsberg 1 während meiner Primanerzeit. Damals war ich tief bedrückt, weil ich mich exiliert fühlte u. das Abitur fürchtete. Jetzt komen mir die Sorgen von damals kindisch vor. Sie haben mich aber damals nicht anders beschwert als heute die heutigen. Ob mir auch diese einmal klein erscheinen werden? Im letzten erscheint mir jetzt oft, fast immer, alles klein. Im letzten starre ich Tag um Tag auf den Tod. Ohne Angst, aber mit Grauen.
    – Ich kome gar nicht zu eigener Arbeit, aber ich habe in letzter Zeit einiges vorgelesen, was für mein 18 e siècle 2 wichtig ist. Auf den * Doyen de Killerine folgte erst ein geplaudertes aber gediegenes Reisebuch: Bummel um die Welt von * Richard Katz . 3 Merkwürdig, wie bei aller Betonung einer unromantischen Ruppigkeit und Entromantisierung der überall europäi = und amerikanisierten Welt

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