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Klemperer, Viktor

Klemperer, Viktor

Titel: Klemperer, Viktor Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Die Tagebücher
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Alexis Dember , der in Prag seinen Doctor der Physik macht, am 6/I nach sehr langer Pause * Annemarie . Sie sprach mit besonderer Erbitterung von den zwangsweisen Sterilisierungen, die oft auch da durchgeführt wurden, wo sie unnötig u. unberechtigt seien. – Heute sollen * * Blumenfelds bei uns essen.
     

 
    15 Januar Dienstag .
    In den letzten Tagen ein gewisser Stimmungsaufschwung. Es sollte an der Saar nicht gut stehen für * H., es sollte alles bereit sein für einen innerpolitischen Umschwung durch die Reichswehr. Politiken 1 sprach von 40 % Status quo = Stimmen, * Gusti war hoffnungvoll, Natscheff sagte, man sei in Berlin sehr nervös[]. Am 13. war die Abstimmung, gestern schon feierte unsere Presse den völligen Sieg, u. heute – um 8 Uhr das Resultat über alle Sender – 90,5 % aller Stimmen, etwa 475 000, für Deutschland, 45 000 für den Status quo, 2 000 für Frankreich. Und die Regierung hier triumphiert, u. wir hängen unsere schwarz-weiß-rote Judenfahne heraus, d.h.: binden sie an eine Wäschestange, die ihrerseits ans Geländer der Aufgangsveranda gebunden ist, u. mein * Dantecolleg fällt aus, und ich habe mich wiedermal in Wunschträumen gewiegt ( vorgestern neulich zu * Natscheff: wer deutsch ist, stimmt für status quo) u. bin nun tief bedrückt. Es geht mir wirklich an den höchst persönlichen Kragen. Das Semester schließt am 15. II, das nächste am 1. 4. beginnend schließt neue Immatrikulationen aus: ich werde keinen Hörer mehr haben u. abgebaut werden.
    Ich kann schon jetzt nicht zahlen, was zu zahlen ist, die Not wird alle Tage größer – wie soll es werden, wenn ich statt 800 – 400 M. bekome.
    – Am Sonntag Nachm. u. Abend waren * * Wieghardts bei uns; wir tranken zwei Flaschen Wein, ließen das Gramophon laufen – die alten Schlager der freien republikanischen Zeiten –, schwelgten in Hoffnungen. Heute scheint mir der Mann wieder unvertilgbar u. die schmutzige Sklaverei durchaus im Sinn Deutschlands u. wirklich 90 % aller Deutschen angemessen.
    Seit einer Woche etwa haben wir das erstemal in diesem Jahre mildes aber richtiges Winterwetter; schöne Schneelandschaft, aber sehr behindernd für * Eva.
    Im Colleg gestern führte ich einen ganz neuen * Crébillon aîné 1 vor. Die fureur seiner Helden 2 über ihrer Sentimentalität kam in stark angedeutete Parallele zum Heroismus des Psychopathen H. –
    Am ärgsten drückt mich momentan die geradezu unwürdige Geldnot. Ich weiß nicht, wie bis zum nächsten Zahltag durchzukomen ist.
    Ich las den * Moraht zuende vor. Viel Gutes, viel Schwaches, durchweg interessant. Das Buch hat eine Fortsetzung, u. danach notiere ich vielleicht einmal etwas darüber. – Dann Annemaries Weihnachtsgeschenk: * Ivan Olbracht: Der Räuber Nikola Schuhaj 3 Wir haben immer auf die Tschechen herabgesehen. Welch eine dichterische Leistung! Und wirklich noch tschechisch? Nicht doch schon europäisch? Meine Grundbegriffe sind sehr ins Wackeln gekommen.
     

 
    16/I Mittwoch .
    * Isakowitz – er nimt uns schon üblicherweise nach der Behandlung in seinem Auto bis zum Bahnhof mit, wo * E. eine Suppe ißt, heute nach abgenomener Brücke ziemlich zahnlos – drückte wieder die Stimmung der Judenheit aus, u. heute eigentlich auch die meine. Tiefste Depression, noch tiefer als im August bei * Hindenburgs Tod. Die 90 % Saarstimmen sind doch wirklich nicht nur Stimmen für Deutschland, sondern buchstäblich für Hitlerdeutschland. Damit hat * Goebbels schon recht. Es hat ja nicht an Aufklärung, Gegenpropaganda, Freiheit der Wahl gefehlt. Wahrscheinlich halten wir, die wir von Gärung sprechen, unsern Wunschtraum für Wahrheit u. überschätzen die vorhandene Gegnerschaft aufs äußerste. Auch im Reich wollen 90 % den Führer u. die Knechtschaft u. den Tod der Wissenschaft, des Denkens, des Geistes, der Juden. Ich sagte: warten wir, ob nicht jetzt, da die Außenpolitik nicht mehr in Frage kommt, der Rechtsumschwung einsetzt. Bis Ostern gebe ich mich nicht geschlagen. Aber es fehlt mir der Glaube an meine Worte.
    – Und jeden Tag eine Verschärfung der Geldnot. Heute eine exorbitante Elektricitätsrechnung. Die elektrische Anlage enttäuscht uns überhaupt. Das Kochen ist schneckenartig langsam u. kostet allzuviel. Die 15 M. um die hier mein Höchstanschlag überstiegen ist, sind nicht mehr gedeckt. Ich habe ein paar Gedenkmünzen, 5 = u. 3 M. = Stücke der letzten Jahre, gesamelt. Die werden nun wohl draufgehen. Und dann? Und wie erst, wenn ich pensioniert

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