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Klemperer, Viktor

Klemperer, Viktor

Titel: Klemperer, Viktor Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Die Tagebücher
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lebendig schätzte. In ein Buch gehört nichts Aktuelles. Alles was für den Tag berechnet ist, verliert auch seine Wirkung mit dem Tag. An diese Reklamehäuser denke ich ebenso oft wie an meine Papiersoldaten.
    Der Leihbibliotheksmann * Natscheff zeigte mir erbittert eine Liste von Büchern, die er ohne Entgelt abliefern muß. Sachen, die von der Censur freigegeben sind, aber nicht ins Volk kommen sollen. So * Hemmingway: In einem andern Land, wohl zu pazifistisch; der ganze * Wassermann 1 wohl zu jüdisch-intellektuell; * Rothe , der oesterreichische Offiziersroman 2 von Solferino bis zum Weltkrieg – ich kome nicht auf den Namen. Zu diesem Werk machte * Maria Lazar eine amüsante Anmerkung. Sie sagte: der Mann kennt sein galizisches Ghetto, von oesterreichischen Adels = u. Offiziersverhältnissen habe er keine Ahnung. Beweis: der General esse als Sonntagsbraten Rindfleisch. Das aber sei das beinahe plebejische Alltagsessen u. niemals ein Sonntagsgericht.
    Ich habe heute den ganzen Tag schwer an einem Überblick der letzten * Paradisogesänge gearbeitet. Ich will ihn meinen zwei getreuen * * Mädeln am Sonnabend Nachm hier oben vorsetzen, da ich in der T. H. offiziell geschlossen habe. Wieviel Studium war nötig, um in diese Gesänge wirklich einzudringen! Theologisches Studium. Nun habe ich so oft schon über Dante geschrieben u. gesprochen u. weiß noch immer so wenig von ihm.
    Jetzt liegen etwa 6 Wochen zusamenhängender Zeit für das 18. Jh. vor mir. Aber wieviele Stunden an jedem Tag? Nie ist mir etwas so langsam geworden wie dieses Buch.
    Ich kann mich nicht entschließen, auf die * Galsworthy-Trilogie hier einzugehen. Und doch würde sie es sehr lohnen. Irgendwo lebt immer eine unsinnige Hoffnung in mir, doch noch einmal in späteren Jahren zu einer wirklichen Arbeit auf englisch-amerikanischem Gebiet zu komen. G. ist mir so interessant durch seine bewußten u. unbewußten Beiträge zur Völkerpsychologie. Die etwas befremdete Achtung vor den Amerikanern, die ihm auf die Nerven gehen; die innere Abneigung gegen die Franzosen, die ihm zuviel Können u. zu wenig Gefühl haben (Fleur); die immer wieder betonte Freude am englischen Landschaftsgefühl an englischem Irrationalismus u. auch am englischen Stoizismus – Gefühl wird nicht geäußert, u. der Frack zum Dinner ist eine gute Sache.
    Ungemein wertvoll ist mir auch der zweite Teil des * Moraht , den ich jetzt vorlese. Auseinandersetzung mit dem Nationalsocialismus von sehr hohem Standpunkt aus: Individuum gegen Masse, Ich gegen Brücke oder bloßen Übergang, Europa gegen Stadtstaat, Geist gegen Blut. Dazu die großartige Schilderung des verkomenen Kolonialdeutschtums in Argentinien u. des primitiven aber eigentlich anständigeren Seelenzustandes der Criollos. 1 Dazu eine Exaktheit[,] gynaekologische Exaktheit im Sexuellen, gegen die * Zolas Naturalismus prüde u. verwaschen erscheint. * Eva fand hier das entscheidende Moment. Frivol oder lüstern ist Zola so wenig wie * Hesse, aber Zola, sagt sie, schildert das Sexuelle sentimental , dage[ge]n Hesse, der Arzt, ganz sachlich. Dabei bringt er seinen Helden in die hanebüchensten Situationen. Höhepunkt in dieser Hinsicht: Moraht nimmt seiner Frau Haidee heimlich vor dem Coitus das Praeservativ weg (Schilderung, wie die braune Schale im Vorhang hängen bleibt); er spricht später darüber mit seiner Schwester.
    21. II Donnerstag Vorm. (reiner Frühling seit gestern!)

    Gestern * Morath II 2 beendet. Einiges wichtig für 3. Reich. Einmal das Romanmotiv: zwei kleine Mädchen sind entstellt durch Mongolenfalte, die Argentinier sagen gringa amarilla 3 , die Deutschen, Frau Dr. Dahnes Großmutter oder Urgroßmutter, Pastorin 1813 in Dresden habe sich mit einem Kalmücken vergangen. Morath muß die kosmetische Operation machen, um die nordische Reinheit zu erweisen. – Der Puchero wird Eintopfgericht genannt. – Morath der eine Art moderner Faust wird, oberster Chef des Gesundheitswesens in verseuchten Nordprovinzen, ist neuerdings der Meinung, daß man die Menschen zu Glück u. Gesundung zwingen muß. – M. legt dem Ministerium Pläne vor. Wahrscheinlich liegen all diese Pläne schon vielfältig zerstreut dort. Als Plan u. Absicht ist alles schon gewesen. Auf das Handeln, Verwirklichen komt es allein an. – * Augustinus 4 über * Franciscus, 5 Mann der Tat, des Willens zur Tyrannei, der Civitas Dei. 6 – – Aber immer wieder: das Individuum! – Der Schluß ist noch keine Lösung aus M.

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