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Klemperer, Viktor

Klemperer, Viktor

Titel: Klemperer, Viktor Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Die Tagebücher
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bin? –
     

 
    2. II Sonnabend Abend .
    Am Mittwoch 30/I mußte * E. eine Zahnwurzel in Narkose entfernt werden. Es ist mir sehr scheußlich zuzusehen, wie sie eingeschläfert wird u. bewußtlos ist, während sie hierfür eine Vorliebe hat u. Lokalanaesthesieen unwirksam findet. Alle paar Jahre muß ich das mitansehen u. bin immer froh, wenn es überstanden ist. Was hilft die Rechnung, daß nur ein Unglücksfall auf 100 000 Narkosen komt? Wer garantiert mir, daß gerade hier das schwarze Loos nicht gezogen wird? – Heute rauchte Eva beim Weggehen vor der Thür des Arztes noch eine Cigarette zu Ende zuende. Dadurch kamen wir einen Augenblick später an die Haltestelle am Albertplatz. Dort steht ein leichter Holz = u. Pappebau als Reklamesäule für das Winterhilfswerk. Seit gestern herrscht ohne Unterbrechung schwerer Weststurm. Wie wir drei Schritte entfernt sind schwankt die Säule u. fällt. Eine größere Anzahl Wartender stiebt auseinander, zwei alte Leute, ein Mann, eine Frau werden getroffen u. liegen darunter. Der Alte schreit mit rotem Gesicht – vielleicht ein Schlaganfall, sicher ein Nervenschock – u. wird vorgezogen u. weggetragen, die Dame hinkt jämerlich und wird zu einem Auto geführt. Das hätte uns auch passieren können. Das schwarze Loos ist überall ziehbar. Fatum? – Nächste Woche soll die nun drei Monate dauernde Behandlung u. Brückenarbeit ein Ende haben. Erlösung für uns beide. Zweimal wöchentlich habe ich den halben Tag daran setzen müssen. Die ständige Wirtschaftsbelastung u. das Collegelend dazu gerechnet: so habe ich in dieser Woche nur den einen Freitag ungestört an meinem 18. Jh. arbeiten können. Ich brachte * Saint-Evremond 1 zur Strecke; ich stehe also nach reichlich sechs Monaten Schreibens noch immer am Anfang.
     

 
    7/II Mittwoch .
    Heute wurde * E. beim Zahnarzt mit dem dreimonatigen Brückenbau fertig u. ist nun arg mitgenomen. Mich selber hat das ungemein viel Zeit gekostet. (Etwa ein Tag in der Woche blieb wirklich frei für das 18. Jh.[)] – Kosten: gegen 600 M. Ich habe Monatszahlungen von 50 M. zugesichert. Ich bin jetzt so belastet mit Teilzahlungen, daß ich aufs allergequälteste über die Zeit von Gehaltszahlung zu = zahlung hinwegkome. Die Lebensversicherung muß ich sistieren. Ich will morgen mit * Rummel beraten, 1 wie das mit gerringstem Schaden zu bewerkstelligen ist. Aber ich fürchte, es wird ein ungemeiner Schaden werden. Ich leide sehr unter diesem ständig verstärkten unwürdigen Druck der Geldnot. Meine Hemden, Strümpfe, Kragen gehen zu Ende, mein einziger Jackettanzug ist überstrapaziert – es fehlt buchstäblich an Geld, das zu ergänzen. Usw. in jedem alltäglichen Bezug. – Und täglich die Last des Dienstmädchenseins, täglich die Mahnung der Atemnot u. Herzbeschwerde, täglich die Sorgen, pensioniert zu werden.
    – Und täglich steht die Regierung * Hitler außenpolitisch fester u. damit innenpolitisch sicherer. Es sind doch wohl die traurigsten Zeiten meines Lebens. Wenn es mir früher schlecht ging, hatte ich die Zukunft vor mir. Jetzt glaube ich mich oft am Ende.
    Die Kollegien haben sich vor zwei, drei Leuten fortgeschleppt u. sollen nächste Woche schließen. Dabei haben sie mir, besonders der * Dante, immer wieder zeitraubende Schwierigkeit gemacht. –
    Am 28. I waren wir Abends bei * * Blumenfelds . Er hat ein Angebot als Psychotechniker nach Lima zu gehen, u. wird es wohl annehmen. Dann werden wir hier noch einsamer sein als zuvor. Ich beneide ihn. Ich bin so qualvoll hilflos. Weil ich ein Neuphilologe bin, der keine Fremdsprache spricht. Mein Französisch ist vollkomen eingerostet, ich habe Angst auch nur einen Satz zu schreiben oder zu sprechen. Mit meinem Italienisch war es nie weit her. Und gar erst mit meinem Spanisch. Ich kann nichts Brauchbares.
    Am 26. I verbrachten wir einen hübschen Abend bei * Annemarie in Heidenau. – Am 24. I waren wir einmal (höchste Seltenheit jetzt) im Kino. Ein * Kiepura = Film (Mein Herz ruft nach Dir 2 ) musikalisch u. inhaltlich ärmer als seine anderen Filme, dennoch sehr hübsch. Ich bin so ausgehungert nach Musik.
    Bei Blumenfelds hören wir jetzt immer gute Gramophonplatten; neuerdings läßt * Eva auch manchmal, wenn * * Wieghardts bei uns sind, unsere alten Schlagerplatten laufen. Diese Tangos u. Niggerlieder u. anderen internationalen u. exotischen Dinge aus den Jahren der Republik haben jetzt geschichtlichen Wert u. erfüllen mich geradezu mit Rührung u. Erbitterung. Es

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