Klemperer, Viktor

der Plusseite des Jahres nicht vergessen, daß ich die Last des * Hueberprozesses los wurde. Das war freilich nur eine Pause in der Geldsorge; jetzt bin ich außerstande im Januar die Iduna zu zahlen.
    Zur Vita: Wie ich radeln lernte, es muß so um 97 gewesen sein u. vor * Georg zeigen sollte, was ich kann. Wie ich die festgeschraubte Vorderrad Lenkstange freizumachen vergaß u. sofort auf den Asphalt fiel. Wie Georg sich entsetzte. Charakteristisch für meinen Mangel an Geistesgegenwart u. Georgs Mangel an psychologischer Kennt Fähigkeit. – Jetzt möchte ich so gern (u. * Eva wünscht es so sehr von mir) Autofahren lernen. Ich werde jetzt noch weniger Geistesgegenwart haben als damals, dazu ein versagendes Herz. Andrerseits: ich bin doch später jahrelang ein ganz passabler Radfahrer gewesen.
    Ich sehe: im vorigen Jahresrésumé (das eigentlich viel trauriger ist als dieses) rühmte ich die Katerchen. Das muß auch hier geschehen.
     

 
1935
     

 
    Dienstag 1. Januar gegen Abend .
    Gestern bei * Gusti W. war es insofern nett, als sie immer wieder eine unerschütterliche Gewißheit äußerte, dies werde das letzte Jahr * H. s sein. Tagüber schrieb ich noch eine gelungene Seite über die Querelle chinoise. 1 – Das neue Jahr begann heute mit Aufwaschen einer Versündigung unserer zu lang eingeschlossenen Katerchen .. Vormittags konnte ich noch ein paar Zeilen arbeiten, Nachmittags bin ich gelähmt durch Müdigkeit u. den tötlich langweiligen Besuch der * Carlo.
    Sprache tertii imperii : Neujahrsbotschaft * Lutzes 2 an die S.A. Encyklopaedisch verkniffene Drohung an die SA. – Zweimal: unser fanatischer Wille im nicht-pejorativen Sinn. Betonung der Gläubigkeit ohne zu verstehen . 1) fanatischer Einsatz der SA 2) fanatische Einsatzbereitschaft.
     

 
    9 Januar Mittwoch .
    Private u. allgemeine Lage spitzen sich zu. Am 3. Januar ist * Blumenfeld aufgefordert worden, vom Lehramt freiwillig zurückzutreten, da man ihm sonst die Venia 3 entziehen müsse. Sein Fach sei ein weltanschauliches[,] ergo ... B. gab zu Protokoll, er lehre Psychologie rein naturwissenschaftlich .. Ja, aber der * Herr Reichsstatthalter sehe das anders an u. entscheide. B. wird wohl freiwillig zurücktreten, weil man ihm sonst die Pension kürzen würde (was natürlich nicht gesagt wird – aber ..) Pensioniert als Dozent u. Studienrat des P. I. 4 ist er schon seit einem Jahr. B. hat immer den finanziellen Rückhalt der Familienziegelei u. auch wohl einigen Vermögens. Ich dagegen ..
    Am 4. Januar Verfügung des Reichsministers * Rust: Das Semester schließt am 15. II, das nächste beginnt am 1/4 ohne Erstimmatriculationen u. Vorlesungen für erste Semester. Ich habe noch drei reguläre Studierende vom P. I. (dazu nur alles in allem fü vier–fünf Hospitanten). Die drei machen Ostern ihr Schlußexamen. Ich werde also von Ostern ab keine Studenten mehr haben u. in Pension gehen müssen, d.h. von 800 M. auf 400 herabgesetzt werden. Ich kann schon jetzt meinen Verpflichtungen kaum nachkomen; die Lebensversicherung muß unbezahlt bleiben, u. wann * Isakowitz einmal sein Geld sehen wird, ist ganz fraglich. Wie also mit dem halben Einkomen weiter? Unmöglich, mit * Eva etwas zu besprechen, ihr etwas von alledem zu klagen. Ihre Nerven versagen wieder völlig. Die leiseste Erwähnung hat Schluckbeschwerden, Übelkeit usw. usw zur Folge. – Jetzt kann nur noch das Schicksal helfen.
    Vielleicht hilft es. Während unsere jüdischen Leute völlig pessimistisch sind u. in der Presse alles herrlich aussieht, erfahren wir über * Annemarie u. * Gusti W. von Schweizer u. englischen Blättern u. Auslandradio wesentlich anderes. Danach sind S.S. = Leute erschossen worden, hat Reichswehr in Magdeburg Zusamenstoß mit SS gehabt, ist * Hitler ganz in der Gewalt der Reichswehr, steht es auch an der Saar nicht sonderlich gut für Deutschland, dürfte die Regierung, in dieser gegenwärtigen Form zum mindesten, bald ein Ende haben.
    Ich lebe ganz fatalistisch von Tag zu Tag .. Mein Colleg nach den Ferien hielt ich vor 3 Leuten (jenen drei) das Seminar vor einem , die Dantevorlesung vor den zwei Hospitantinnen. Es ist sehr erbärmlich. Dabei kostet mich dieser Betrieb drei volle Tage meiner Schreiberei. Und am Mittwoch hat sich dann soviel Müdigkeit u. Kleinkram aufgesamelt, daß auch dieser 4. Tag verloren geht. So kriecht mein Opus lust = u. hoffnungslos schneckenartig.
    Wir hatten zu Besuch hier: am 4/I * * * * die 4 anständigen Köhlers , am 5. I *