Klingenfieber: Roman (German Edition)
wahrscheinlich wegen ihrer Lederkleidung, Schlange .
Aber dann passierte etwas anderes, etwas Neues. Die Zerkener kürten einen Ortsfremden, ihre Sache zu vertreten. Einen Adeligen aus einer der Niederstädte, der ein Mädchen aus diesem Dorf geheiratet hatte und mit seiner Frau zum Vogelbaumfest gekommen und seitdem noch bei ihrer Familie einen angenehmen Aufenthalt genossen hatte. Sein Name war Arelio Retindori aus dem Geschlecht der Westbringenden Retindoriden. Er war gut aussehend, wohlerzogen, geschmackvoll gekleidet – er trug sogar Schmucksporen an seinen Halbstiefeln –, er war etwa dreißig Jahre alt, und er wollte mit einem schmalen, fast degenartigen Säbel in der einen und einer kurzen Parierstange in der anderen Hand gegen Erenis antreten. Niemand, nicht einmal seine hübsche Frau, die sehr langes blondes Haar hatte, das ihr bis hinab auf den Hintern fiel, zweifelte daran, dass er die dahergelaufene Schwertkämpferin besiegen würde. Und er sagte sogar großmütig zu Erenis: »Ich werde dich nicht töten. Ich werde dir nur eine Lektion erteilen. Kostenlos. Denn deiner Münzen bedarf ich nicht, ich bin selbst ausreichend vermögend.«
Stenrei, der sich unter die Schaulustigen mischte, ohne dass ersichtlich wurde, dass er zu Erenis gehörte, entwickelte bei diesen Worten ein körperlich drückendes Unbehagen. Das ganze Gebaren des Adeligen unterschied sich zu sehr von dem der ansonsten üblichen Dorfstärksten. Zerken schickte sozusagen einen Stadt stärksten und überschritt dadurch womöglich Erenis’ Fähigkeiten. Oder? Die Klingentänzerin jedenfalls blieb die Ruhe selbst. Nicht einmal Retindoris Hochmut entlockte ihr eine Entgegnung.
Die beiden stellten sich zum Kampf auf.
Stenrei vergaß beinahe, darauf zu achten, ob sich im Hintergrund Gegner zusammenrotteten, aber auch das nur beinahe. Er versuchte, die ganze Welt gleichzeitig im Blick zu halten, während er um Erenis’ Leben fürchtete. Selbst in der belagerten Hütte war ihm nicht so mulmig gewesen wie jetzt.
Der Kampf war erstaunlich kurz.
Was immer der Adelige für eine Lektion im Sinn gehabt hatte – er kam kaum dazu, seine sicherlich vorhandenen Fähigkeiten zu demonstrieren – was sicherlich nicht der Sinn einer Parierstange war –, dann zerbrach sie mit einem wuchtigen Schwerthieb seinen dünnen Säbel, und dann rammte sie ihm ihr Schwert so heftig durch den Brustkorb, dass das Knirschen von den umliegenden Hauswänden widerhallte.
Arelio Retindori starb Blut hustend, während die Klingentänzerin ihn mit einem Fuß von ihrem Schwert lostrat.
Danach löste sich alles auf. Die schöne Ehefrau bedeckte den Toten mit ihren langen Haaren und weinte und wehklagte, bis ihr Gesicht von seinem Blut ganz verschmiert war. Ihre Eltern zeterten zum Himmel, haderten mit den Göttern, rupften sich die Gewänder. Das Volk rannte in Wellen hierhin und dorthin, versuchte vor sich selbst zu fliehen, vielleicht auch vor dem Zorn der Westbringenden Retindoriden, der jetzt über Zerken kommen würde. Aber niemand feindete Erenis an. Sie konnte ihre Sachen zusammensuchen und weiterziehen. Für Zerken war sie wohl eher die Vollstreckerin eines unheilvollen Ratschlusses der Götter als eine angreifbare Frau aus Fleisch und Blut.
Stenrei folgte ihr. Das Geheul des Dorfes verfolgte ihn noch, nachdem dessen Silhouette schon längst außer Sichtweite war.
Dann überholte er sie, um wieder voranzugehen.
»Im nächsten Dorf werde ich nicht kämpfen, sondern nur eine Herberge nehmen«, sagte sie ihm. »Du kannst in derselben schlafen, aber in einem anderen Zimmer. Vorausgesetzt, du bist in der Lage zu bezahlen.«
Er nickte nur und sagte kein Wort. Durch seine Schweigsamkeit wollte er sie beeindrucken.
In Tesderess gab es nur eine einzige Schenke, die Zimmer anbot. Stenrei und Erenis bekamen von einem erkälteten Wirt gegenüberliegende Räume zugewiesen. Auch für die Tesderesser war nicht ersichtlich, ob diese beiden zusammengehörten. Darüber, dass sie beide Schwerter trugen, munkelte man aber unten im Schankraum, das konnte Stenrei zwischen den Niesanfällen des Wirtes noch hören, während ihm auf seinem muffigen Bett langsam die Augen zufielen.
Mitten in der Nacht kam der Mann mit dem fallenden Kopf auf ihn zu und versuchte, sich an ihm festzuhalten. Stenrei schreckte auf und beschloss, lieber nicht mehr einzuschlafen, damit der Mann nicht zurückkehrte.
Am gestrigen Tag war es ihm nicht gelungen, Erenis seine Nützlichkeit zu beweisen.
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