Klingsors letzter Sommer
schlafen sollen, unbedingt und
um jeden Preis. Vielleicht, wenn man eine
Reihe von Nächten wirklich schlafen
würde, sechs oder acht Stunden richtig
schlafen, so würde man sich erholen kön-
2
nen, so würden die Augen wieder gehor-
sam und geduldig sein, und das Herz ruhi-
ger, und die Schläfen ohne Schmerzen.
Aber dann war dieser Sommer vorüber,
dieser tolle flackernde Sommertraum, und
mit ihm tausend ungetrunkene Becher ver-
schüttet, tausend ungesehene Liebesblicke
gebrochen, tausend unwiederbringliche
Bilder ungesehen erloschen!
Er legte die Stirn und die schmerzenden
Augen auf die kühle Eisenbrüstung, das
erfrischte für einen Augenblick. In einem
Jahr vielleicht, oder früher, waren diese
Augen blind, und das Feuer in seinem Her-
zen gelöscht. Nein, kein Mensch konnte
dies flammende Leben lang ertragen, auch
nicht er, auch nicht Klingsor, der zehn
Leben hatte. Niemand konnte eine lange
Zeit hindurch Tag und Nacht alle seine
Lichter, alle seine Vulkane brennen haben,
niemand konnte mehr als eine kurze Zeit
lang Tag und Nacht in Flammen stehen,
jeden Tag viele Stunden glühender Arbeit,
jede Nacht viele Stunden glühender Ge-
danken, immerzu genießend, immerzu
schaffend, immerzu in allen Sinnen und
Nerven hell und überwach wie ein Schloß,
3
hinter dessen sämtlichen Fenstern Tag für
Tag Musik erschallt, Nacht für Nacht tau-
send Kerzen funkeln. Es wird zu Ende ge-
hen, schon ist viel Kraft vertan, viel Augen-
licht verbrannt, viel Leben hingeblutet.
Plötzlich lachte er und reckte sich auf. Ihm
fiel ein: oft schon hatte er so empfunden,
oft schon so gedacht, so gefürchtet. In allen
guten, fruchtbaren, glühenden Zeiten sei-
nes Lebens, auch in der Jugend schon,
hatte er so gelebt, hatte seine Kerze an
beiden Enden brennen gehabt, mit einem
bald jubelnden, bald schluchzenden Gefühl
von rasender Verschwendung, von Ver-
brennen, mit einer verzweifelten Gier, den
Becher ganz zu leeren, und mit einer tiefen,
verheimlichten Angst vor dem Ende. Oft
schon hatte er so gelebt, oft schon den
Becher geleert, oft schon lichterloh ge-
brannt. Zuweilen war das Ende sanft ge-
wesen, wie ein tiefer bewußtloser Winter-
schlaf. Zuweilen auch war es schrecklich
gewesen, unsinnige Verwüstung, unleidli-
che Schmerzen, Ärzte, trauriger Verzicht,
Triumph der Schwäche. Und allerdings
war von Mal zu Mal das Ende einer Glut-
zeit schlimmer geworden, trauriger, ver-
4
nichtender. Aber immer war auch das über-
lebt worden, und nach Wochen oder Mo-
naten, nach Qual oder Betäubung war die
Auferstehung gekommen, neuer Brand,
neuer Ausbruch der unterirdischen Feuer,
neue glühendere Werke, neuer glänzender
Lebensrausch. So war es gewesen, und die
Zeiten der Qual und des Versagens, die
elenden Zwischenzeiten, waren vergessen
worden und untergesunken. Es war gut so.
Es würde gehen, wie es oft gegangen war.
Lächelnd dachte er an Gina, die er heut
abend gesehen hatte, mit der auf dem gan-
zen nächtlichen Heimweg seine zärtlichen
Gedanken gespielt hatten. Wie war dies
Mädchen schön und warm in seiner noch
unerfahrenen und ängstlichen Glut! Spie-
lend und zärtlich sagte er vor sich hin, als
flüstere er ihr wieder ins Ohr: »Gina! Gina!
Cara Gina! Carina Gina! Bella Gina!«
Er trat ins Zimmer zurück und drehte das
Licht wieder an. Aus einem kleinen wirren
Bücherhaufen zog er einen roten Band Ge-
dichte; ein Vers war ihm eingefallen, ein
Stück eines Verses, der ihm unsäglich
schön und liebevoll schien. Er suchte
lange, bis er ihn fand:
7
Laß mich nicht so der Nacht, dem
Schmerze,
Du Allerliebstes, du mein Mondgesicht!
Oh, du mein Phosphor, meine Kerze,
Du meine Sonne, du mein Licht!
Tief genießend schlürfte er den dunklen
Wein dieser Worte. Wie schön, wie innig
und zauberhaft war das: Oh, du mein Phos-
phor! Und: Du mein Mondgesicht!
Lächelnd ging er vor den hohen Fenstern
auf und ab, sprach die Verse, rief sie der
fernen Gina zu: »Oh, du mein Mondge-
sicht!« und seine Stimme wurde dunkel vor
Zärtlichkeit.
Dann schloß er die Mappe auf, die er nach
dem langen Arbeitstag noch den ganzen
Abend mit sich getragen hatte. Er öffnete
das Skizzenbuch, das kleine, sein liebstes,
und suchte die letzten Blätter, die von ge-
stern und heut, auf. Da war der Bergkegel
mit den tiefen Felsenschatten; er hatte ihn
ganz nahe an ein Fratzengesicht heran mo-
delliert, er schien zu schreien, der Berg,
Weitere Kostenlose Bücher