Klingsors letzter Sommer
gehört. Ein Wind geht heut, der
ist ein Märchenwind, das himmlische
Kind, der weckt die schlafenden Prinzessi-
nen auf und schüttelt den Verstand aus den
Köpfen. Heut blüht eine Blume, die ist eine
Märchenblume, die ist blau und blüht nur
einmal im Leben, und wer sie pflückt, der
hat die Seligkeit.«
»Meint er etwas damit?« fragte Ersilia den
Doktor.
Klingsor hörte es.
»Ich meine damit: dieser Tag kommt nie-
mals wieder, und wer ihn nicht ißt und
trinkt und schmeckt und riecht, dem wird
er in aller Ewigkeit kein zweites Mal ange-
boten. Niemals wird die Sonne so scheinen
wie heut, sie hat eine Konstellation am
44
Himmel, eine Verbindung mit Jupiter, mit
mir, mit Agosto und Ersilia und uns allen,
die kommt nie, niemals wieder, nicht in
tausend Jahren. Darum möchte ich jetzt,
weil das Glück bringt, ein wenig an Ihrer
linken Seite gehen und Ihren smaragdenen
Sonnenschirm tragen, in seinem Licht wird
mein Schädel aussehen wie ein Opal. Sie
aber müssen auch mittun und müssen ein
Lied singen, eines von Ihren schönsten.«
Er nahm Ersilias Arm, sein scharfes Ge-
sicht tauchte weich in den blaugrünen
Schatten des Schirmes, in den er verliebt
war und dessen grellsüße Farbe ihn ent-
zückte.
Ersilia fing an zu singen:
»II mio papa non vuole,
Ch᾽io spos᾽ un bersaglier –«
Stimmen schlossen sich an, man schritt sin-
gend bis zum Walde und in den Wald hin-
ein, bis die Steigung zu groß wurde, der
Weg führte wie eine Leiter steil bergan
durch die Farnkräuter den großen Berg
empor.
»Wie wundervoll gradlinig ist dieses Lied!«
45
lobte Klingsor. »Der Papa ist gegen die
Liebenden, wie er es immer ist. Sie nehmen
ein Messer, das gut schneidet, und machen
den Papa tot. Weg ist er. Sie machen es in
der Nacht, niemand sieht sie als der Mond,
der verrät sie nicht, und die Sterne, die sind
stumm, und der liebe Gott, der wird ihnen
schon verzeihen. Wie schön und aufrichtig
ist das! Ein heutiger Dichter würde dafür
gesteinigt werden.«
Man klomm im durchsonnten spielenden
Kastanienschatten den engen Bergweg
hinan. Wenn Klingsor aufblickte, sah er
vor seinem Gesicht die dünnen Waden der
Malerin rosig aus durchsichtigen Strümp-
fen scheinen. Sah er zurück, so wölbte sich
über dem schwarzen Negerkopf Ersilias
der Türkis des Sonnenschirmes. Darunter
war sie violett in Seide, die einzige Dunkle
unter allen Figuren.
Bei einem Bauernhaus, blau und orange,
lagen gefallene grüne Sommeräpfel in der
Wiese, kühl und sauer, von denen probier-
ten sie. Die Malerin erzählte schwärmend
von einem Ausflug auf der Seine, in Paris,
einst, vor dem Kriege. Ja, Paris, und das
selige Damals!
46
»Das kommt nicht wieder. Nie mehr.«
»Es soll auch nicht«, rief der Maler heftig
und schüttelte grimmig den scharfen Sper-
berkopf. »Nichts soll wiederkommen!
Wozu denn? Was sind das für Kinderwün-
sche! Der Krieg hat alles, was vorher war,
zu einem Paradies umgemalt, auch das
Dümmste, auch das Entbehrlichste. Gut
so, es war schön in Paris und schön in Rom
und schön in Arles. Aber ist es heut und
hier weniger schön? Das Paradies ist nicht
Paris und nicht die Friedenszeit, das Para-
dies ist hier, da oben liegt es auf dem Berg,
und in einer Stunde sind wir mitten drin
und sind die Schacher, zu denen gesagt
wird: Heut wirst du mit mir im Paradiese
sein.«
Sie brachen aus dem durchsprenkelten
Schatten des Waldpfades auf die offene
breite Fahrstraße hinaus, die führte licht
und heiß in großen Spiralen zur Höhe.
Klingsor, die Augen mit der dunkelgrünen
Brille geschützt, ging als letzter und blieb
oft zurück, um die Figuren sich bewegen
und ihre farbigen Konstellationen zu se-
hen. Er hatte nichts zum Arbeiten mitge-
nommen, absichtlich, nicht einmal das
49
kleine Notizbuch, und stand doch hundert-
mal still, bewegt von Bildern. Einsam
stand seine hagere Gestalt, weiß auf der
rötlichen Straße, am Rand des Akazienge-
hölzes. Sommer hauchte heiß über den
Berg, Licht floß senkrecht herab, Farbe
dampfte hundertfaltig aus der Tiefe herauf.
Über die nächsten Berge, die grün und rot
mit weißen Dörfern aufklangen, schauten
bläuliche Bergzüge, und lichter und blauer
dahinter neue und neue Züge und ganz
fern und unwirklich die kristallnen Spitzen
von Schneebergen. Über dem Wald von
Akazien und Kastanien trat freier und
mächtiger der Felsrücken und höckrige
Gipfel des Salute hervor, rötlich
Weitere Kostenlose Bücher