Klingsors letzter Sommer
der Kinderwelt gelebt
hatten, als der Krieg sie wegholte, und
welche jetzt diese sogenannte Welt und
Wirklichkeit, in die sie »heimkehrten«,
vollkommen fremd und unbegreiflich fan-
den. Und von uns Älteren waren viele der
Meinung, es seien ihnen gerade die wich-
tigsten, die unersetzlichsten Jahre geraubt
worden, und es sei jetzt zu spät, um noch-
mals anzufangen und mit den Jüngeren zu
konkurrieren, welche ja auch nicht zu be-
neiden waren, aber immerhin den Vorzug
hatten, schon in einer harten und nüchter-
nen, einer unsentimentalen und ideallosen
Welt zum Leben erwacht zu sein, während
wir Alten aus Zeitaltern stammten und
Weltbilder kannten, die für uns die höch-
sten Werte gewesen und jetzt zu belächel-
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ten Kuriositäten von vorgestern geworden
waren. Die Zeitalter waren erstaunlich
kurz geworden; die Jüngeren rechneten
schon nicht mehr nach Menschenaltern,
Generationen oder wenigstens nach Lu-
stren, sondern nach Jahrgängen, und die
von 903 glaubten von den 904ern durch
eine große Kluft getrennt zu sein. Es war
alles fraglich geworden, und das hatte et-
was Beunruhigendes und oft sehr Beängsti-
gendes. Aber in einer so fragwürdigen
Welt schien manchmal, in guten Stunden,
auch alles möglich zu sein, und das öffnete
weite Horizonte. Mir zum Beispiel, dem
vom Krieg degradierten und vergewaltig-
ten, jetzt wieder ins Privatleben entlasse-
nen Dichter, wollten zuweilen die unwahr-
scheinlichsten Dinge möglich scheinen,
etwa eine Rückkehr der Welt zu Vernunft
und Brüderlichkeit, ein Wiederentdecken
der Seele, ein Wiedergeltenlassen des Schö-
nen, ein Wiederangerufenwerden von den
Göttern, an die wir bis zum Zusammen-
bruch unsrer einstigen Welt geglaubt hat-
ten. Jedenfalls sah ich für mich keinen an-
deren Weg als den zur Dichtung zurück,
einerlei ob die Welt der Dichtung noch
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bedürfe oder nicht. Wenn ich mich von den
Erschütterungen und Verlusten der
Kriegsjahre, die mein Leben nahezu voll-
kommen zertrümmert hatten, noch einmal
erheben und meinem Dasein einen Sinn
geben konnte, so war es nur durch eine
radikale Einkehr und Umkehr möglich,
durch einen Abschied von allem Bisheri-
gen und einen Versuch, mich dem Engel zu
stellen.
Es hatte bis zum Frühling 99 gedauert,
bis die Kriegsgefangenenfürsorge, in deren
Dienst ich stand, mich entließ; die Freiheit
fand mich allein in einem leeren und ver-
wahrlosten Hause, in dem es seit einem
Jahr sehr an Licht und Heizung gemangelt
hatte. Es war von meiner frühern Existenz
sehr wenig übriggeblieben. So machte ich
einen Strich unter sie, packte meine Bü-
cher, meine Kleider und meinen Schreib-
tisch ein, schloß das verödete Haus und
suchte einen Ort, wo ich allein und in voll-
kommener Stille von vorn beginnen
könnte. Der Ort, den ich fand, und an dem
ich heute, viele Jahre später, noch lebe, hieß
Montagnola und war ein Dorf im Tessin.
Um diesen Sommer zu einem außerordent-
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lichen und einmaligen Erlebnis für mich zu
steigern, kamen drei Umstände zusammen:
das Datum 99, die Rückkehr aus dem
Krieg ins Leben, aus dem Joch in die Frei-
heit, war das wichtigste; aber es kam hinzu
Atmosphäre, Klima und Sprache des Sü-
dens, und als Gnade vom Himmel kam
hinzu ein Sommer, wie ich nur sehr wenige
erlebt habe, von einer Kraft und Glut, ei-
ner Lockung und Strahlung, die mich mit-
nahm und durchdrang wie starker Wein.
Das war Klingsors Sommer. Die glühen-
den Tage wanderte ich durch die Dörfer
und Kastanienwälder, saß auf dem Klapp-
stühlchen und versuchte, mit Wasserfarben
etwas von dem flutenden Zauber aufzube-
wahren; die warmen Nächte saß ich bis zu
später Stunde bei offenen Türen und Fen-
stern in Klingsors Schlößchen und ver-
suchte, etwas erfahrener und besonnener,
als ich es mit dem Pinsel konnte, mit Wor-
ten das Lied dieses unerhörten Sommers zu
singen. So entstand die Erzählung vom
Maler Klingsor.
(938)
Abbildungsverzeichnis
Häuser am Berg: Seite 7, gemalt am 22. 9. 922
Interieur mit Büchern: Seite 5, gemalt 92
Dorf im Frühling: Seite 3, gemalt um 92
Dächer von Montagnola: Seite 4, gemalt am 24. 6. 928
Blühende Bäume: Seite 47, gemalt am 7. 4. 925
Blick auf den Luganer See: Seite 65, gemalt am 9. 9. 922
Bäume im Spätherbst: Seite 79, gemalt am 8. . 924
Sorengo: Seite 07, gemalt am 26. 6. 924
Grotto im
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