Klingsors letzter Sommer
vor
Schmerz zu klaffen. Da war der kleine
Steinbrunnen, halbrund im Berghang, der
gemauerte Bogen schwarz mit Schatten ge-
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füllt, ein blühender Granatbaum drüber
blutig glühend. Alles nur für ihn zu lesen,
nur Geheimschrift für ihn selbst, eilige gie-
rige Notiz des Augenblicks, rasch herange-
rissene Erinnerung an jeden Augenblick,
in dem Natur und Herz neu und laut zu-
sammenklangen. Und jetzt die größern
Farbskizzen, weiße Blätter mit leuchtenden
Farbflächen in Wasserfarben: die rote Villa
im Gehölz, feurig glühend wie ein Rubin
auf grünem Sammet, und die eiserne
Brücke bei Castiglia, rot auf blaugrünem
Berg, der violette Damm daneben, die ro-
sige Straße. Weiter: der Schlot der Ziegelei,
rote Rakete vor kühlhellem Baumgrün,
blauer Wegweiser, hellvioletter Himmel
mit der dicken wie gewalzten Wolke. Dies
Blatt war gut, das konnte bleiben. Um die
Stalleinfahrt war es schade, das Rotbraun
vor dem stählernen Himmel war richtig,
das sprach und klang; aber es war nur halb
fertig, die Sonne hatte ihm aufs Blatt ge-
schienen und wahnsinnige Augenschmer-
zen gemacht. Er hatte nachher lange das
Gesicht in einem Bach gebadet. Nun, das
Braunrot vor dem bösen metallenen Blau
war da, das war gut, das war um keine
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kleine Tönung, um keine kleinste Schwin-
gung gefälscht oder mißglückt. Ohne ca-
put mortuum hätte man das nicht heraus-
bekommen. Hier, auf diesem Gebiet, lagen
die Geheimnisse. Die Formen der Natur,
ihr Oben und Unten, ihr Dick und Dünn
konnte verschoben werden, man konnte
auf alle die biederen Mittel verzichten, mit
denen die Natur nachgeahmt wird. Auch
die Farben konnte man fälschen, gewiß,
man konnte sie steigern, dämpfen, überset-
zen, auf hundert Arten. Aber wenn man
mit Farbe ein Stück Natur umdichten
wollte, so kam es darauf an, daß die paar
Farben genau, haargenau im gleichen Ver-
hältnis, in der gleichen Spannung zueinan-
der standen wie in der Natur. Hier blieb
man abhängig, hier blieb man Naturalist,
einstweilen, auch wenn man statt Grau
Orange und statt Schwarz Krapplack
nahm.
Also, ein Tag war wieder vertan, und der
Ertrag spärlich. Das Blatt mit dem Fabrik-
schlot und der rotblaue Klang auf dem
andern Blatt und vielleicht die Skizze mit
dem Brunnen. Wenn morgen bedeckter
Himmel war, ging er nach Carabbina; dort
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war die Halle mit den Wäscherinnen. Viel-
leicht regnete es auch wieder einmal, dann
blieb er zu Haus und fing das Bachbild in
Öl an. Und jetzt zu Bett! Es war wieder ein
Uhr vorbei.
Im Schlafzimmer riß er das Hemd ab, goß
sich Wasser über die Schultern, daß es auf
dem roten Steinboden klatschte, sprang ins
hohe Bett und löschte das Licht. Durchs
Fenster sah der blasse Monte Salute herein,
tausendmal hatte Klingsor vom Bett aus
seine Formen abgelesen. Ein Eulenruf aus
der Waldschlucht tief und hohl, wie Schlaf,
wie Vergessen.
Er schloß die Augen und dachte an Gina,
und an die Halle mit den Wäscherinnen.
Gott im Himmel, so viel tausend Dinge
warteten, so viel tausend Becher standen
eingeschenkt! Kein Ding auf der Erde, das
man nicht hätte malen müssen! Keine Frau
in der Welt, die man nicht hätte lieben
müssen! Warum gab es Zeit? Warum im-
mer nur dies idiotische Nacheinander, und
kein brausendes, sättigendes Zugleich?
Warum lag er jetzt wieder allein im Bett,
wie ein Witwer, wie ein Greis? Das ganze
kurze Leben hindurch konnte man genie-
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ßen, konnte man schaffen, aber man sang
immer nur Lied um Lied, nie klang die
ganze volle Symphonie mit allen hundert
Stimmen und Instrumenten zugleich.
Vor langer Zeit, im Alter von zwölf Jah-
ren, war er Klingsor mit den zehn Leben
gewesen. Es gab da bei den Knaben ein
Räuberspiel, und jeder von den Räubern
hatte zehn Leben, von denen er jedesmal
eines verlor, wenn er vom Verfolger mit
der Hand oder mit dem Wurfspeer berührt
wurde. Mit sechs, mit drei, mit einem ein-
zigen Leben konnte man noch davonkom-
men und sich befreien, erst mit dem zehn-
ten war alles verloren. Er aber, Klingsor,
hatte seinen Stolz darein gesetzt, sich mit
allen, allen seinen zehn Leben durchzu-
schlagen, und es für eine Schande erklärt,
wenn er mit neun, mit sieben davonkam.
So war er als Knabe gewesen, in jener un-
glaublichen Zeit, wo nichts auf der Welt
unmöglich, nichts auf der Welt schwierig
war, wo alle Klingsor liebten, wo Klingsor
allen befahl, wo alles Klingsor gehörte.
Und so hatte er es
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