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Klippen

Klippen

Titel: Klippen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Olivier Adam
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zu hören. Ich schlug die Augen auf, aber da war nichts. Ich redete mir ein, dass Geister, zumindest der meiner Mutter, vorausahnen können, wann die Menschen, die sie besuchen, ihre Gegenwart bemerken. Dann verschwinden sie im Nu. Ich spielte viele Jahre mit ihr, versuchte sie zu überrumpeln, indem ich unversehens die Augen aufschlug oder ganz schnell blinzelte. Mehrmals gelang es mir, einen Blick auf sie zu erhaschen.
    Mein Vater hat nie ein Wort über die Kleider meiner Mutter verloren. Nachdem er an jenem Abend im Wohnzimmer die Fensterläden geschlossen hatte, ging er nach oben in Antoines Zimmer. Vermutlich packte er etwas Wechselkleidung in eine Tasche. Ich schlief mit dem Gefühl völliger Leere ein.
    Als ich aufwachte, befahl mein Vater mir, mich schnell anzuziehen. Wir fuhren ins Krankenhaus. Mein Bruder lag vollkommen reglos in seinem blassblau bezogenen Bett und schlief Eine Glasscheibe trennte uns von ihm, Apparate maßen mithilfe von Elektroden, die man ihm auf die Brust geklebt hatte, allerlei Werte. Dünne, durchsichtige Schläuche verschwanden in seiner Haut. Mit dem nackten Oberkörper und dem auf der Stirn klebenden Haar sah Antoine wie ein kleiner Junge aus. Er wirkte auf einmal so zart, so zerbrechlich. Mein Vater ließ ihn nicht aus den Augen, er lauerte auf einen Hinweis, eine Bewegung. Ich glaube, er verdächtigte ihn der Simulation. Auch ich selbst ertappte mich dabei, wie ich auf seinem Gesicht und seinem Körper nach winzigen Veränderungen Ausschau hielt, nach kaum merklichen Zuckungen, die ihn entlarvten und sein Geheimnis verrieten. Ja, auch ich war überzeugt: mein Bruder stellte sich schlafend. Nicht, um die anderen zu ärgern, wie mein Vater dachte. Sondern damit man ihn in Ruhe ließ. Ihn seinem Kummer überließ. Damit er die Augen geschlossen halten und auf der Netzhaut die unangetasteten Bilder meiner Mutter bewahren konnte. Damit er nichts vergaß. Nichts verlor. Alles in seinem Innern aufhob, sodass ihm nichts abhandenkam.
    Die ganzen sechs Wochen, die sein Koma dauerte, und auch noch lange, nachdem man ihn in ein Zimmer verlegt hatte, in dem ich an ihn herantreten und seinen Atem spüren, ihm etwas ins Ohr flüstern, sein Gesicht küssen und seine Hand in meine nehmen konnte, ließ ich mich nicht davon abbringen: Er machte uns etwas vor, er spielte tot. Wenn wir ihn besuchten, blieb mein Vater nie lange. Er ging hinaus, um eine Zigarette zu rauchen oder zu telefonieren, oder er fuhr wieder arbeiten und holte mich auf dem Rückweg ab. Ich verbrachte Stunden am Krankenbett meines Bruders, manchmal sogar ganze Tage, mittwochs, samstags, sonntags. Das Zimmer war blau, und immer wieder kamen Krankenschwestern herein, um die Sonden, Infusionen oder Windeln, die man ihm anlegte, zu wechseln. Manchmal musste ich hinaus auf den Gang, wo Patienten in Hausschuhen herumschlurften. An den Fenstern gingen Angehörige rauchend auf und ab. Ich holte mir am Automaten heißen Kakao. Unterdessen wurde mein Bruder gewaschen, und er ließ es geschehen, schwer und schlaff, willenlos und unhandlich. Von Weitem gab man mir ein Zeichen, wenn ich zurück ins Zimmer konnte. Ich setzte mich wieder in den großen Sessel, den ich ans Bett schob. Ich betrachtete sein Gesicht, verbrachte Stunden damit, ihn einfach nur anzusehen. Oder ich flüsterte ihm etwas ins Ohr. Meistens erzählte ich ihm von meinen Schultagen. Niemand redete mit mir, und die Lehrer mochten mich nicht. Manchmal stellte ich ihn auch auf die Probe. Dann erzählte ich ihm schlüpfrige Witze, sagte unflätige Wörter oder andere Abscheulichkeiten, kitzelte ihn mit einer Vogelfeder an den Füßen oder im Gesicht. Ich wartete auf das Lächeln, das Kräuseln der Lippen oder der Stirn, das Beben der Nasenflügel, das ihn verriet. Einmal raunte ich ihm sogar zu: »Maman ist wieder da.« Aber mein Bruder gab sechs Wochen lang kein anderes Lebenszeichen von sich als seinen vollkommen gleichmäßigen Atem oder nachts die Bewegungen seiner Augäpfel unter den Lidern, die ich mit der Zeit zu unterscheiden gelernt hatte und an denen ich erkennen konnte, wann er träumte und meine Mutter vermutlich bei ihm war, ihm zulächelte oder ihn aufs Haar küsste.
    Die sechs Wochen vergingen wie ein Windhauch, ein übler, schwindelerregender Hauch, aufgeladen mit den Atemgeräuschen meines tief schlafenden Bruders und erhellt von Krankenhauslicht, vom fahlen Licht der Neonlampen und himmelblauen Wände. Sechs Wochen mit dem Geruch nach Äther und kalter Suppe,

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