Klippen
gewissermaßen auf der Zungenspitze.
Zwischen Les Abbesses und Marseille, zwischen seiner Flucht und seinem Verschwinden, sah ich ihn nur hin und wieder, hatte ich ihn nur etwa fünfzehn Mal am Telefon. Antoine sagte ein paar Worte über die Länder, in denen er anlegte, zählte seine Zwischenstopps auf, kündigte mir sein Kommen an, und das war es auch schon. Wenn er Zeit hatte, kam er nach Paris und klopfte an meine Tür. Das war vor fünf oder zehn Jahren, und Antoine hat Chloé nie kennengelernt, hat nie von ihrer Geburt erfahren. Das war vor fünf oder zehn Jahren, vielleicht noch länger her, die Zeit ist über die Jahre zu einem Brei geronnen. Einmal im Jahr kratzte Antoine an meiner Tür und sagte: »Ich bin’s.« Er trat ein, umarmte mich, bemerkte, mein Zimmer sei genauso klein wie seine Kajüte, und nahm sich ein Bier. Dann schaltete er den Fernseher ein, und wir sahen uns irgendeinen Blödsinn an und rauchten dabei die Joints, die er einen nach dem anderen drehte. Wenn es dunkel wurde, gingen wir am menschenleeren Park entlang, durch Les Batignolles und zur Place de Clichy, seinem nächtlichen Vergnügungsviertel. Wir zogen durch die Bars, und mein Bruder landete unweigerlich in den Armen eines schwarz gekleideten Mädchens mit geschminkten Lippen, gefärbten Haaren und entblößten Brüsten, ich verdrückte mich, ging sturzbetrunken nach Hause und plumpste aufs Bett, wo er mich ein paar Stunden später weckte. Er ließ sich aufs Sofa fallen und stieß sich dabei den Kopf an der Dachschräge. Selbst im Winter bat er mich, das Fenster zu öffnen, er wollte das Meer riechen. Ich kam seiner Bitte nach, und wir froren entsetzlich. Unter mehreren Decken schliefen wir schließlich Seite an Seite im eiskalten Zimmer ein, denn der Hausbesitzer stellte nachts die Heizung ab. Antoine war fix und fertig, er hatte geraucht, Ecstasy geschluckt und eine Linie Koks geschnupft, er redete im Schlaf, heulte Rotz und Wasser, zitterte und fing grundlos an zu schreien. Die Nachbarin trommelte an die Tür und brüllte, wir sollten Ruhe geben, worauf mein Bruder noch lauter schluchzte, und ich glaube, im Grunde konnten wir nie anders mit Mamans Tod umgehen. Wir konnten nicht anders damit umgehen, als uns gegenseitig vollzuheulen, unsere Tränen miteinander zu vermengen und uns in der Winternacht aneinanderzuklammern.
Heute berührt mich nichts mehr. Nichts außer Claire und Chloé. Und heute Nacht werde ich nicht über sie sprechen. Nein. Jedenfalls nicht wirklich. Nein, ich werde nicht über sie reden, vielleicht aus Aberglauben, ja, bestimmt, um sie beide dem Unglück, dem Fluch zu entreißen. Ich werde an einem anderen Tag, in einer anderen Nacht über sie sprechen, und dann werde ich über das Lachen meiner Tochter reden und über ihr Haar an meiner Wange, und ich werde über Claires Blick reden und über meinen zwischen ihren Brüsten vergrabenen Kopf, über ihre schlichten, trefflichen Worte, die mich auf den Beinen halten, über die Zärtlichkeit, die uns zusammenhält, über den Trost, in ihrer Nähe zu leben.
Der Himmel hellt sich auf, und zwischen den Wolken dringen ein wenig Rosa, Gelb und Blau durch. Ich verlasse mein Versteck in den Felsen, langsam dämmert der Tag herauf und das Meer leckt am lotrechten weißen Stein. Ich beuge mich über den Rand, es ist nicht mehr so schwarz, und schon bald ist es ein blasses Blaugrau, das von einer tiefstehenden Sonne gestreichelt wird. Ich gehe zum Strand, der Boden ist rutschig, und meine Schritte hinterlassen Spuren. Jemand sieht mich an, jemand ist hinter mir, ich drehe mich um, aber da ist niemand, nur der Schleier, den eine Abwesenheit, ein sich zurückziehender Schatten hinterlassen. Wie das Loch, das meine Mutter in meinem Bauch, wie das, das meine Kindheit zurückgelassen hat. Ein Abdruck, ein Spalt, kaum mehr, sodass man nicht glauben mag, dass da überhaupt etwas ist.
Unterhalb der Treppe ist der Tag angebrochen, fahl und funkelnd. Ein alter Mann geht über die Kieselsteine, er starrt die Klippen an, die nun wieder zu sehen und um diese Stunde leicht gelblich sind. Auf den Terrassen tragen Männer Stühle hin und her, wischen das abperlende Wasser von den Tischen. An den Fassaden der Hotels blitzen die Dachluken. Ich schlottere, meine Glieder sind taub vor Müdigkeit. Die dicke Frau an der Rezeption wirft mir einen argwöhnischen Blick zu, ich grüße sie mit einem Nicken. Claire schläft tief und fest in dem noch dunklen Zimmer, dessen Vorhänge zum
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