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Klippen

Klippen

Titel: Klippen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Olivier Adam
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Schutz gegen das heller werdende Licht zugezogen sind, Chloé sitzt neben ihr, schaut mich an, sagt Papa und fragt mich: »Wo warst du?« Ihr Anblick überwältigt mich, ich schließe sie fest in die Arme, flüstere ihr ins Ohr, dass ich sie liebe, dass Papa draußen war, um spazierenzugehen und den Vögeln zuzusehen, dass sie sich keine Sorgen machen muss, nie, dass ich immer für sie da sein werde. Sie drückt mir einen feuchten Kuss auf die Lippen und verlangt nach einem Zeichentrickfilm. Ich schalte den Fernseher ein, stelle ihn ganz leise, ziehe meine Jacke aus und schlüpfe zwischen sie und ihre Mutter. Ich bin müde, meine Füße sind eiskalt. Claire nimmt meine Hand und murmelt: »Du bist ja halb erfroren«, dann schläft sie wieder ein.
     
     
     
     
     
     
    Im Monat vor ihrem Tod klopfte Léa nur ein paar Mal an die Zimmerwand. Wenn ich eintrat, blickte sie zur Begrüßung kaum auf. Dutzende von Kerzen brannten, und selbst nachts sorgte sie dafür, dass keine ausging. Sie war sehr still, in sich gekehrt, sagt man wohl, und die Augen beherrschten ihr Gesicht. Bei meinen letzten zwei Besuchen hatte ihr Zimmer nach Äther gerochen, und auf ihrem Schreibtisch hatten neben einem Wasserglas Filmstreifen mit ein paar übrigen Tabletten darin gelegen. (Ich habe keine Ahnung, wo sie die Unmengen an Medikamenten her hatte, die sie nach Bedarf mischte. Vielleicht gab es in ihrer Familie einen Arzt, der es nicht so genau nahm? Oder war es einer ihrer Liebhaber ?) Wir schliefen miteinander, und ihr Blick wirkte abwesend und hart, während ich mich in ihr hin und her bewegte. Ihr Gesicht nahm verstörte, beunruhigende Züge an, die von einer tiefen Versunkenheit, einer Entrücktheit herrührten. Wir liebten uns schweigend, und danach drückte ich sie zweimal so fest, dass ihr die Luft wegblieb, als könnte sie das retten, so wie die Lebenden ihre Sterbenden fest in die Arme schließen, bevor ihr Atem versiegt. Ich drückte sie, und ihr Körper war kalt und steif Ich ahnte es damals nicht, aber sie war bereits weit weg, und nichts konnte sie an die Oberfläche zurückholen.
     
    Noch heute, wenn ich an unsere letzten gemeinsamen Stunden zurückdenke, in denen wir uns aneinanderdrängten wie vor Kälte, Angst und Kummer zitternde Kinder in ihrem Versteck, spüre ich genau, wie ihr Körper mit einem Mal härter als Holz wurde und sie sich wie eine Tote anfühlte, sehe ich ihre Leichenmiene vor mir. Ich möchte nicht darüber nachdenken, was sie eines Tages auf die andere Seite gestoßen hat, als sie dicht am Abgrund stand, wie so viele von uns, wie ich auch. Ich will nicht darüber nachgrübeln, auch nicht über ihre verwirrende Ähnlichkeit mit Lorette in der letzten Zeit, über ihre eingefallenen Gesichter, aus denen das Blut, das Leben, der Puls der Welt gewichen waren, auch nicht über meine Mutter, über den Freitod der beiden mit seinen Parallelen, über ihre Verzweiflung und ihren Egoismus, ihre Weigerung, daran zu glauben, dass ich sie an die Welt binden, sie dort halten, dass ich den Ausschlag geben könnte. Ich stelle fest, dass weder die eine noch die andere an mir hing, während ich mein Leben lang an anderen gehangen, mich an sie geklammert habe, obwohl sie nur rutschige Planken, fragwürdige Weggenossen, unzuverlässige, wankelmütige Komparsen waren. Wenn das Leben nichts als ein dünner Faden ist, der uns miteinander verbindet, dann war meiner eindeutig brüchig, fragil, glitschig, von Salz zerfressen.
     
    Als ich am Tag ihres Todes das Ohr an die Trennwand drückte, hörte ich nur Wasserplätschern. Auf dem Flur hatte sich vor ihrer Tür eine Pfütze gebildet, die sich auf den Fliesen ausbreitete. Der Boden in ihrem Zimmer war klatschnass, die Vorhänge waren zugezogen, rund hundert Kerzen brannten. An den Wänden wiederholten sich unzählige Abzüge ein und desselben Fotos, auf dem ihre Großmutter scheu lächelte. Ich stieß die Badezimmertür auf, sie lag in der Wanne, aschfahl in ihrem vom Wasser aufgebauschten geblümten Kleid, die Haut und die Lungen unter Wasser. Ich drehte den Hahn zu und ging sofort wieder hinaus. Im Türrahmen stand der dicke russische Nachbar mit gelbem Gesicht und glasigen Augen. Fragend sah er mich an.
    »Sie ist tot. Sie hat sich umgebracht.« Mehr brachte ich nicht heraus. Er durchquerte das Zimmer und betrat gleichfalls das Bad, als wollte er sichergehen, dass ich ihn nicht angelogen hatte. Er kam wieder heraus, und es hatte den Anschein, als würden ihm die Beine unter

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