Klippen
Probleme, auf die ich stieß. Ich hielt sie auch über meine Anstrengungen hinsichtlich Pariser Verlegern auf dem Laufenden. Sie konnte sich für die geringsten Vorkommnisse, für jeden meiner Einfalle, für das kleinste aufmunternde Wort jedes noch so unbedeutenden unterbeschäftigten Praktikanten begeistern. Später am Abend, nach zwei, drei Gläsern Rotwein, liebten wir uns. Oft sehr rasch, heftig und brutal, manchmal aber auch ganz langsam und sehr zärtlich, aber jedes Mal hielten wir uns danach lange umschlungen, und ich streichelte ihre Augen, während sie ohne erkennbaren Grund weinte. Im Lauf der Wochen tauchten an ihrem Körper immer mehr Wundmale, blaue Flecken und kleine Narben auf, deren Herkunft ich mir nicht erklären konnte. Ich tröstete sie, ohne zu wissen, warum, und sie tat das Gleiche mit mir. Irgendwie kamen wir mir wie leicht inzestuöse Geschwister vor, die verängstigt durch die Nacht dieser Welt irrten und mit weit aufgerissenen Augen voller Entsetzen auf kalte, hoffnungslose Landstriche blickten. Noch zwei Fingerbreit neben der Heizung zitterten wir vor Kälte.
Ich hörte sie weiterhin oft durch die Trennwand stöhnen. Ihr Jammern wurde von Tag zu Tag nüchterner, schmerzvoller. Ein paar Minuten später schlug die Tür zu, und mehrmals hatte ich sie schreien hören: »Hau ab, verdammt, hau ab!« Bis zum Schluss hatte ich keine Ahnung, warum sie mit diesen Männern vögelte, wonach sie suchte, indem sie sich ihnen darbot. Ich wusste von ihr nur, was sie mir in ihrem Zimmer mit den tanzenden Schatten, in diesem Grab, dieser Gruft unter freiem Himmel, zu sagen bereit war. Zwischen den zugezogenen Vorhängen waren die Wolken und Baumwipfel zu sehen, manchmal war alles vollkommen klar, deutlich und scharf umrissen, aber meist sahen wir Paris mit seinem Deckel aus Schiefer. Mit jeder Woche sammelten sich in ihrem Zimmer mehr Tücher, dunkler Samt, schwere Stoffe, dicke Wälzer, Kerzen und Gemälde an. Wir verbrachten dort manchmal den ganzen Tag, von morgens bis abends, ohne es zu merken, verkrochen uns darin wie in einem ewigen Winter. Léa erwähnte ihre Eltern nie, sprach aber immer wieder von ihrer Großmutter und von Auschwitz. Als Kind hatte sie ein Jahr in Budapest gelebt, aber sie hatte keine Erinnerungen an diese Zeit. Ich hörte ihr zu, und ihre Stimme war herzzerreißend, es war die Stimme eines leidgeprüften kleinen Mädchens.
Manchmal gingen wir hinaus, so wie man an der Wasseroberfläche nach Luft schnappt. Sie gab den Weg vor, und ich folgte ihr. Wir zogen durch Paris, die Nacht hüllte uns ein, uns war kalt, und die Seine floss beschaulich dahin. Die Ile Saint-Louis und das Marais gehörten zu ihren Lieblingsorten, ebenso der Jardin du Luxembourg, wo ich am Rand der Rasenflächen oder des Großen Beckens mit dem Gesicht in der Sonne oder im Schatten des Springbrunnens so gern einnickte. Sie schleppte mich in Kinos, in denen ausländische Filme liefen, von deren Existenz ich nicht einmal gewusst hatte, die meisten waren unendlich traurig, wunderbar langsam, melancholisch und hoffnungslos. Hin und wieder ging sie auch ins Café und stellte mir eine Freundin vor. Ich leistete ihnen ein paar Minuten Gesellschaft, dann verdrückte ich mich. Bei einer dieser Gelegenheiten lernte ich Claire kennen.
In dieser Zeit kam es auch vor, dass ich meine Mutter sah. Ich meine: sie wirklich sah. Manchmal, wenn das Café leer war, spiegelte sie sich in einer Fensterscheibe, eine Passantin mit eiligem Schritt. Ich ließ die Gläser, die ich gerade spülte, stehen und sagte zu meinem Chef in einem Ton, der keinen Widerspruch duldete: »Ich geh raus.«
»Hast du ein Gespenst gesehen oder was?« Auf der Straße war sie nur mehr eine Silhouette in der Ferne, ein mit einem schwarzen Baumwollmantel bedeckter Rücken, auf den ihr langes, glattes blondes Haar fiel. Ich folgte ihr mit einigem Abstand, sie bog in die Rue du Pont-Neuf oder de Rivoli ein, überquerte die Seine in Richtung Saint-Germain-des-Prés oder ging durch die Rue des Pyramides ins Quartier de l’Opéra. An roten Ampeln holte ich sie ein. Sie spürte mich hinter sich und drehte sich um, und jedes Mal war es ein neues Gesicht, das sich von dem meiner Mutter kaum unterschied. Jedes Mal war nur eine Kleinigkeit anders, winzig genug, um Verwirrung zu stiften, aber zugleich offensichtlich genug, um jeden Zweifel auf der Stelle auszuräumen. Ich wollte nicht einsehen, dass ihr Tod eigentlich hätte genügen müssen,
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