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Klippen

Klippen

Titel: Klippen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Olivier Adam
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aber eins stand fest: Vor mir stand meine Mutter, sie hatte mich nicht erkannt, aber wie sollte sie auch, ich war noch ein Kind, als sie aus diesem Hotel floh, es war Nacht, und sie tauchte in der schlafenden Stadt unter, während sich eine andere Frau von den Klippen stürzte. Am Morgen sah ich sie im überheizten Waggon eines Regionalzugs im Regen die Wiesen vorbeiziehen, während in Étretat ein unkenntlicher verrenkter Körper aus dem Wasser gezogen wurde. Um welche Unbekannte hatten wir all die Jahre geweint? Welche Fremde hatte man auf einem anonymen Friedhof eines Pariser Vororts sechs Fuß unter der Erde verscharrt?
    An der Haltestelle Victor-Hugo stiegen wir aus. Der Abend senkte sich auf blonde, pausbackige Häuser herab, mit Stores verhängte hohe Fenster, baumbestandene Alleen, auf denen man niemandem begegnete. In den Straßen parkten frisch gewaschene, fast neue Autos. Sie betrat eine Brasserie und setzte sich an eins der bis auf halbe Höhe von kurzen, bordeauxfarbenen Samtvorhängen verdeckten Fenster. Wie ich rauchte sie Craven und neigte den Kopf, wenn sie sich eine Zigarette zwischen die Lippen steckte. Bestimmt wartete sie auf jemanden, aber es kam niemand. Ständig sah sie auf ihre Uhr. Sie trug schwarze Handschuhe. Es war zwanzig Uhr, als sie aufstand, und ich sah, wie sich ihre rote Gestalt im Dunkeln entfernte. In der Rue Longchamp 26 tippte sie einen Code ein und verschwand.
     
    Zwei Tage später ging ich zu der Adresse. Ich suchte die Fenster ab. Das Haus wirkte unbewohnt, wie die Straße, wie das Viertel. Die Bäume kratzten an den Fassaden, ich wartete stundenlang, die Zeit schien stillzustehen. Schließlich tauchte sie auf. Es war meine Mutter, die da auf mich zukam, ich war mir sicher. Sie betrat das Haus, und ich folgte ihr. Die breite Treppe war mit einem langen königsblauen Läufer belegt. Ein kunstvolles Eisengitter öffnete sich zu einem mit lackiertem Holz ausgekleideten Fahrstuhl. Im Spiegel überlagerten sich unsere Gesichter, und meine Lippen formten lautlos das Wort maman. »Sprechen Sie mit mir?« Diese Stimme, ich glaubte, sie vergessen zu haben, doch sie erklang unverändert und vertraut. Wir standen im vierten Stock auf dem Treppenabsatz. Sie drehte den Schlüssel im Schloss und fragte: »Sind Sie ein Freund von Louis?« Ich nickte, und sie ließ mich in eine riesige unmöblierte Wohnung eintreten. »Er kommt bestimmt gleich. Möchten Sie einen Kaffee?« Ein mit einem Laken abgedecktes Sofa stand mitten im Wohnzimmer. Die großen Fenster gingen auf die Straße und ähnliche Häuser. Auf dem Parkettboden lagen Papiere, Briefe und Kuverts. In einem anderen Zimmer klingelte das Telefon. Ich hörte Schritte im Flur und ihre Stimme, die ein paar Worte sagte. Sie legte auf und kam wieder zu mir. Sie trug ein Tablett mit zwei klimpernden Tassen, die Handschuhe hatte sie nicht ausgezogen. »Er kommt heute nicht mehr. Er ist verhindert. Kommen Sie doch morgen wieder, wenn Sie möchten.« Wir tranken unseren Kaffee, und wenn wir etwas sagten, hallten unsere Stimmen seltsam in dem riesigen Zimmer. Ich erinnerte sie an jemanden, aber sie sagte nicht, an wen. Sie forderte mich noch einmal auf, am nächsten Tag wiederzukommen. Dann sei Louis wieder da. Ich verließ die Wohnung, und die Worte, die ich nicht ausgesprochen hatte, brannten mir auf den Lippen.
     
     
     
     
     
     
    Mir ist kalt, und der Himmel hellt sich ein wenig auf In der Ferne pflügen Frachter durchs Wasser. Auf den rostigen Brücken der Schiffe fahrt ein ums andere Mal mein Bruder vorbei, vielleicht für immer. Ich weiß nicht, ob er mir fehlt, ich glaube, dass er ein Teil eines anderen Lebens ist und ich nach dem Tod meiner Mutter gelernt habe, alles zu nehmen, wie es kommt, und mich nicht mehr dagegen aufzulehnen. Ich glaube, alles in allem war die Leere, die sie in mir hinterlassen hat, bereits so groß und tief, dass er sie durch sein Verschwinden nicht mehr vergrößern konnte.
    Ich weiß nicht, wann genau mein Bruder zum ersten Mal im lückenhaften Fluss meiner Erinnerungen auftaucht. Wann er sich aus dem sandigen Grund herauslöst und ein Gesicht, eine Stimme, eine erkennbare Gestalt annimmt. Ich glaube, zwischen seinem achten und elften Lebensjahr verschmilzt er je nach Situation mal mit mir, mal mit meiner Mutter. Trotzdem habe ich seltsamerweise das Gefühl, ihn schon viel länger zu kennen. Was ich von ihm vergessen habe, ist wohl nicht so wichtig, ist nicht so tief verschüttet, und ich trage es

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