Klostergeist
gebracht haben, werden wir in alle Richtungen ermitteln müssen.«
Die Witwe erwiderte nichts. Mechanisch erhob sie sich und begleitete Verena zur Tür. »An einem wäre mir gelegen, Frau Hälble, machen Sie es noch nicht öffentlich.«
Fragend sah Verena die Witwe an.
»Manfred … es müssen Vorkehrungen getroffen werden …«
Die Kommissarin nickte. Sie verstand. Jens-Uwe Engel, Cousin des verstorbenen Bürgermeisters, war vor wenigen Monaten zum zweiten Mal in seinem Amt als Vorstandsvorsitzender der Württemberger Kasse bestätigt worden. Der Wahltuttlinger hatte sich vom Filialleiter der Tuttlinger Sparbank bis an die Spitze einer der größten Banken des Ländles hochgearbeitet und stand seit der Wirtschaftskrise wieder und wieder in der Kritik. Verena erinnerte sich an die Nachrichten, in denen von horrenden Bonuszahlungen die Rede gewesen war.
»Natürlich, ich verstehe«, versicherte sie und tätschelte der Witwe beruhigend den Arm. »Das Ganze hat auch eine quasi politische Dimension.«
»Wenn Sie es so formulieren wollen, Frau Hälble, ja, ich werde meine Schwägerin Evelyne anrufen, Jens-Uwe ist, wie ich meine, derzeit in Berlin.«
»Reicht es heute am späten Abend?«
»Sie meinen die Pressekonferenz? Heute Abend?« Marlies Engel kratzte sich am Kopf. »Nein, geben Sie uns Zeit bis morgen. Bitte!«
Verena seufzte. Und hoffte, dass nichts vom Berg nach unten in die Stadt drang. Sonst …
»Ich tue, was ich kann«, verprach sie schließlich und trat aus der Tür. »Trotzdem muss ich Sie bitten, sich für uns bereitzuhalten. Vielleicht ergibt die Obduktion doch die eine oder andere Frage.«
»Obduktion? Wo haben Sie meinen Mann denn hingebracht?«
Verena stutzte abermals. Warum hatte Marlies Engel eigentlich nicht eher danach gefragt? Hatten die Psychologen auf der Hochschule nicht gesagt, Ehefrauen wollten so schnell als möglich zu den toten Gatten – auch wenn dies meist kein erfreulicher Anblick wäre?
»Er ist in Tübingen«, antwortete sie.
Mit unbewegter Miene nickte Marlies Engel. Dann schloss sie hinter der Kommissarin die Tür.
Hier ist Radio Donauwelle, euer Sender für den Kreis Tuttlingen. Am Mikrofon euer Morgenmann Steven. Zwischen Balgheim und Dürbheim ist ein Traktor liegengeblieben. Bitte langsam fahren, die Spur aus Richtung Balgheim ist gesperrt.
An alle fleißigen Landwirte da draußen ein herzlicher Morgengruß! Nur für euch spielt euer Steven jetzt ›Down on the Farm‹ von Guns N’ Roses.
Kaum war der Leichenwagen um die Ecke verschwunden, stürmte Pater Johannes ins Haus. Er trat durch die Tür des Klosterladens, ließ die Regalreihen voller Bücher, Grußkarten und Rosenkränze links liegen und stolperte mit quietschenden Gummisohlen den Gang an den Besucherzimmern vorbei zur Küche. Dort angekommen stützte er sich einen Moment schwer schnaufend am blitzblank polierten Edelstahlherd ab. Im Geiste sah er das Gesicht von Pius, die Blutspritzer auf den unrasierten Wangen, das Entsetzen im Blick des Bruders.
Dann wandte er sich abrupt um und riss den mannshohen Kühlschrank auf, warf Butter und die Käsedose auf die Anrichte, kramte nach einem Päckchen Räucherlachs, setzte Wasser auf für die gekochten Eier. Schnitt Brot, arrangierte grobe Leberwurst, Salami und Schwarzwälder Schinken auf einer Platte. Als er alles, auch Marmelade, Honig und die von Pater Sunil jüngst entdeckte und heißgeliebte Nutella, auf dem Servierwagen gestapelt hatte, wurde ihm leichter ums Herz – er hatte zwar nichts tun, nichts sagen können im Moment des größten Schreckens, doch das duftende Toastbrot, der falsche Kaviar und die Orangenfilets machten aus dem heutigen Frühstück ein wahres Sonntagsmahl. Und genau das würden die Brüder jetzt brauchen!
Als Johannes den Wagen ins Refektorium schob, erhellte sich Pius’ Miene merklich. Der Duft von frisch gebrühtem Kaffee schwappte in den Raum, getragen von der Vorfreude auf knuspriges Toastbrot. Schweigend nahm Johannes seinen Platz an Pius’ Seite ein. Der Superior nickte ihm kurz zu und stand dann auf.
»Herr, Vater im Himmel, wir rufen Dich an«, sprach Pius mit gefalteten Händen. Die Patres neigten die Köpfe und bekreuzigten sich.
»Wir bitten Dich, allmächtiger Herr, nimm Dich der Seele von Manfred Engel an. Nimm ihn auf in Dein himmlisches Reich und schenke ihm den ewigen Frieden in Deiner Unendlichkeit.« Pius schwieg einige Augenblicke. Die Gedanken in seinem Kopf rasten. Was sollte er den Brüdern
Weitere Kostenlose Bücher