Klostergeist
Marlies Engel fuhr herum. Mit einem Mal, im Schein der Neonröhre, sah sie wirklich aus wie eine Mittfünfzigerin.
»Das sollten Sie, Frau Engel, ich mache …«
»… nur Ihre Arbeit, entschuldigen Sie.« Marlies Engel strich sich eine blondierte Locke aus der Stirn und goss sich ebenfalls eine Tasse Kaffee ein. Dann setzte sie sich Verena gegenüber.
»Mein Mann hatte seit einiger Zeit Probleme.« Verena horchte auf, doch sie unterbrach Frau Engel nicht. »Private Probleme, nichts, was an die Öffentlichkeit dringen sollte, verstehen Sie? Er war ja beinahe rund um die Uhr im Rathaus, dann die vielen Sitzungen der Vereine, immer muss der Bürgermeister dabei sein, kaum ein freier Abend, von den Wochenenden ganz zu schweigen. Das zehrt an den Nerven, wenn Sie verstehen.«
Verena verstand. Und verstand nicht. Ja, Manfred Engel war bei fast jeder Jahreshauptversammlung in Spaichingen zugegen gewesen. Und er war ein gern gesehener Gast und Gastredner. Und ja, das Amt eines Bürgermeisters kannte keine Stechuhr – doch wann immer der Schultes ihr begegnet war, stets hatte er einen freundlichen Händedruck und nette Worte übrig gehabt. Ein Mensch mit Burnout sieht anders aus, dachte Verena. Doch sie sagte nichts, nickte nur stumm.
»Wissen Sie, die Leute wollen immer nur haben, aber geben will keiner was.« Bitterkeit schwang in Marlies Engels Stimme mit, als sie nach der Zuckerdose griff und schwungvoll einen Würfel in der Tasse versenkte.
»Hat Ihr Mann Ihnen gegenüber Andeutungen gemacht? Von Suizid gesprochen? War er depressiv?«
»Manfred hat nie über sich selbst gesprochen. Ich musste mir das schon selbst zusammenreimen. Aber so sind Männer eben …«
»Bitte, könnten Sie nachsehen, ob er vielleicht einen Abschiedsbrief …?«
Noch ehe Verena ausgesprochen hatte, war Marlies Engel bereits aufgesprungen. Die Kommissarin hörte, wie sie ins Wohnzimmer ging, wie sie Schubladen aufriss und wieder schloss. Dann erklangen Schritte auf der Treppe und Verena vernahm von oben lautes Rumpeln und Scharren. Türen und Türchen wurden geöffnet und wieder geschlossen. Nach wenigen Augenblicken kam Marlies Engel wieder herunter und nahm am Küchentisch Platz.
»Nein, Frau Hälble, da ist nichts, kein Brief.«
»Vielleicht finden Sie später noch etwas. Ich weiß, es ist privat, aber es wäre für die Ermittlungen wichtig.«
Marlies Engel nickte.
»Sie sagten vorhin, Ihr Mann liege oben im Bett und schlafe? Aber Sie müssten doch bemerkt haben, dass er …«
»… nicht da war?« Wieder fiel Frau Engel der Kommissarin ins Wort. »Nein, das habe ich nicht, mein Mann und ich schlafen seit Jahren getrennt.« Verena pfiff innerlich durch die Zähne – wenn sie das ihren Trainingskolleginnen im Fitnessstudio erzählen würde …
»Er schnarcht jämmerlich«, sagte Marlies Engel und rührte energisch den Kaffee um. »Er schnarchte. Er wird nie wieder schnarchen.« Der Löffel fiel ihr aus der Hand und landete klirrend auf dem Boden. Tränen stiegen der Witwe in die Augen. »Er kommt nicht mehr heim.« Marlies Engel schlug die Hände vors Gesicht und schluchzte laut.
Verena schluckte trocken. Das war der Moment, vor dem sie sich gefürchtet hatte. Alles konnte sie ertragen, mit vielem umgehen – nur nicht mit weinenden, verzweifelten Angehörigen. Ein paar Minuten lang ließ sie die Witwe gewähren. Draußen auf der Straße kläffte ein Hund. Die ersten Herrchen und Frauchen machten sich auf zur morgendlichen Hunderunde ums Michelfeld. Die tapfersten schafften es bis nach Aldingen und wieder zurück.
»Frau Engel, ich werde in den nächsten Tagen noch einmal kommen«, flüsterte Verena schließlich und stand auf. Marlies Engel zog laut – und ganz und gar nicht damenhaft – die Nase hoch und linste hinter ihren Händen hervor. »Schon gut, Frau Hälble«, schluchzte sie.
Verena stutzte. Die Augen der Witwe schienen zu blitzen, aber das konnte nicht sein. Wahrscheinlich spiegelte sich die Neonröhre in den Bambiaugen, für die Marlies Engel in ihrer Jugend von so vielen Spaichinger Buben angehimmelt worden war. »Eine Frage noch, Frau Engel«, entschuldigte sie sich, als sie schon den Reißverschluss des Anoraks wieder geschlossen hatte. »Hatte Ihr Mann Feinde?«
Marlies Engel wischte sich über das Gesicht und sah Verena aus rot geränderten, feuchten Augen an. »Sie meinen, es könnte ihn jemand gestoßen haben?«
»Das weiß ich nicht, Frau Engel, aber ehe wir nichts Näheres in Erfahrung
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