Klostergeist
ich meine nicht den Kaffee«, bremste ihn Pius und hielt Johannes am Ärmel der Kutte zurück. Der Pater ließ sich wieder neben Pius auf den Stuhl gleiten.
»Du hast recht, es ist unglaublich. Unser Schultes tot. Hier. Im Kloster.« Es war, als dämmerte Johannes erst jetzt die ganze Tragweite des Ereignisses.
»Keine Anzeichen von Fremdeinwirkung«, wiederholte Pater Pius die Worte der Kommissare. »Suizid? Nein, das kann ich nicht glauben. Nicht Manfred Engel«, fügte er bestimmt hinzu und nahm einen kräftigen Schluck Kaffee.
Johannes langte nach dem Brotkorb und fischte ein Rosinenbrötchen heraus, das er auf Pius’ Teller legte.
Gedankenverloren begann der Superior, die Zibeben aus dem Hefeteig zu pulen. »Das passt so gar nicht zu Engel«, murmelte er. »Ein so gläubiger Mann. Der würde doch niemals den Freitod wählen.«
»Aber wenn die Polizei das doch sagt?«, erwiderte Johannes, der nun seinerseits nach einem Kürbiskernbrötchen angelte. Dem Beispiel Pius’ folgend, knubbelte er die Kerne einzeln vom Backwerk und ließ sie zwischen den Zähnen knacken. »Außerdem ist das hier nicht der ›Tatort‹.«
»Nein, wir sind nicht im Fernsehen, aber trotzdem, etwas ist komisch.« Pius steckte sich zwei Rosinen in den Mund.
Johannes lächelte, als er an die Sonntagabende dachte, die die Patres stets vor dem Fernseher verbrachten. Die kleine Gemeinschaft hatte es sich zur Angewohnheit gemacht, die ›Tatort‹-Folgen zum Ratespiel zu deklarieren: Nach den ersten 20 Minuten musste jeder einen Tipp abgeben, wer der Mörder sein könnte. Johannes hatte bislang nur einmal, bei einer Folge mit den Münsteraner Kommissaren, richtig gelegen. Die Hitliste der Treffer führte mit weitem Abstand Pater Pius an.
»Schau, erst vor ein paar Wochen war Engel bei der Beichte. Kein Wort, das er sprach, hätte auf eine solche Verzweiflungstat schließen lassen.«
»Du willst doch nicht im Ernst behaupten, da hätte jemand nachgeholfen, Pius?«
»Nenn es, wie du willst, aber ich sage noch einmal: Etwas gefällt mir nicht.« Pius verschluckte sich beinahe an einer Rosine. In seinem Magen begann es zu kribbeln. Es war dasselbe Kribbeln, das er Sonntag für Sonntag vor dem Fernseher verspürte. Kriminalistisches Kribbeln, sozusagen.
»Also dann, Professor Boerne, legen Sie los!« Johannes grinste hinter dem Kürbiskern-Weckle vor.
Pius’ Blick suchte das Kruzifix, das in der Ecke des Refektoriums hing. Es war, abgesehen von einer kitschigen Landschaftsmalerei in Öl, der einzige Schmuck an den Wänden. »Weißt du, Johannes, ich erinnere mich, als wir das beleuchtete Kreuz auf dem Turm installiert haben.«
Johannes nickte. Fast zehn Jahre war das jetzt her – und ebenso lang schwelte in der Gemeinde der Streit um die Neonröhren. Die einen waren begeistert, die anderen vehement gegen die ›Flugplatzbeleuchtung‹ auf dem Dreifaltigkeitsberg.
»Damals war der komplette Gemeinderat auf dem Berg, um sich die statischen Konstruktionen anzusehen. Gruppenweise hab ich sie auf den Turm gebracht.«
Johannes lächelte. »Oh ja, und wie du geschwitzt hast, das war besser als Jogging, gell?«
Pius ließ sich nicht beirren und fuhr fort: »Manfred Engel war bei keiner der Besteigungen dabei. Er hat es so geschickt eingefädelt, dass er stets abseits stand, wenn die nächsten fünf Honoratioren an der Reihe waren.«
Johannes brummte etwas Unverständliches in seinen nicht vorhandenen Bart und griff nach einer Scheibe Emmentaler.
»Ich denke, das hatte seinen Grund«, dozierte Pius und merkte dabei, wie das Kribbeln in seinem Magen noch stärker wurde. »Und zwar jenen: Unser Bürgermeister hatte Höhenangst.«
Der Emmentaler klebte an Johannes’ Zähnen. Er hustete. Pius klopfte ihm auf die Schulter und reichte ihm ein Glas Orangensaft. Als Johannes wieder sprechen konnte, krächzte er: »Und einer, der Höhenangst hat, klettert nicht mitten in der Nacht freiwillig auf einen Turm.«
»Ganz genau. Dabei fällt mir ein, dass der Dachdecker-Mattes mir mal erzählt hat, dass alle Männer beim Richtfest der Berufsschule mit aufs Dach kommen wollten. Nur der Schultes nicht.«
Pius griff zufrieden nach einer Scheibe Salami, rollte sie zusammen und zerkaute die Wurst mit Genuss.
»Also gut, Herr Bienzle, dann nehmen wir einmal an, du hast recht. Aber wer oder was hat den Engel dann auf den Turm gelockt?«
»Nicht wer oder was ist zunächst die Frage, sondern das Warum, lieber Johannes. Und da fallen mir auf Anhieb einige
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