Klotz Und Der Unbegabte Moerder
Direktiven angerichtet hatte, und er gewann den Eindruck, dass – wenn auch die Lernenden von ihm scheinbar in die Sackgasse geführt worden waren – dieses Szenario, das sich da unter seinen Augen abspielte, in seinem Wie und Was nicht wesentlich absurder war als das Leben selbst. Insofern würden seine Schüler auf jeden Fall etwas dazulernen, wenn auch nicht etwas, das einem besseren Textverständnis von Herrn Goethes Geschreibsel entgegenkam.
Letztlich ging es ja auch gar nicht darum, in diesen letzten Juliwochen irgendwelche Sechzehnjährigen mit den selbstmitleidigen Ergüssen eines jämmerlichen Suizidenten zu nerven, der ganz offensichtlich unter einer narzisstischen Persönlichkeitsstörung litt. Nein, es ging vielmehr darum, dass er, Klotz, in seiner Funktion als verdeckter Ermittler so viel wie möglich über den Mord an Linda Cordes herausfinden sollte. Er war überzeugt, dass er früher oder später durch seinen Undercover-Einsatz zu entscheidenden Hinweisen gelangen würde.
Nachdem er die Hausaufgabe gestellt und die Schüler entlassen hatte, ließ er sich am Pult nieder. Im Geiste fragte er seine Eindrücke ab, die er gewonnen hatte, als er durch die Reihen gegangen war. Wer war ihm da besonders aufgefallen? Da war ein Schüler namens Cem Bülent, der dadurch geglänzt hatte, dass er kategorisch verweigerte, diese »Leiden des jungen Werther« überhaupt anzufassen. Stattdessen hatte er an irgendwelchen Songtexten herumlaboriert und etwas davon gefaselt, dass doch morgen Bandabend sei und er unbedingt noch die Lyrics fertig machen müsse. Nachdem Klotz dem Leistungsverweigerer einen Verweis angedroht hatte, hatte dieser Cem wenigstens den Buchdeckel aufgeschlagen. Klotz war schnell weitergegangen, um nicht in die Verlegenheit zu geraten, die Verwarnung in die Tat umsetzen zu müssen.
Ihm fiel Anja Löterich auf. Offenbar die Tochter des Direktors. Im Gegensatz zu Herrn Dr. Löterich ging ihr das Akademische allerdings völlig ab. Übrig blieb das rein Landwirtschaftliche, das ja auch der Herr Vater nicht ganz verbergen konnte. Es war nicht unbedingt so, dass sich Klotz von den abgeranschten Cowboystiefeln, den löchrigen Jeans und dem farbenfrohen Oberteil abgeschreckt gefühlt hätte. Aber wenn man schon einen neongrünen Stringtanga trug und seine Brust durch einen Push-up zur Geltung bringen musste, dann wäre zumindest ein Minimum an verbaler Ausdrucksfähigkeit oder eine angenehme Stimme vonnöten gewesen, um in Klotz ansatzweise so etwas wie Sympathie zu erwecken. Doch dieses Weib schnatterte nicht nur unsinniges Zeug, sondern kicherte in regelmäßigen Abständen auf eine Weise, die Klotz an eine meckernde Ziege erinnerte.
Neben der rustikalen Maid hatte Maximilian Rausch seinen Platz. Fragen hatte er keine gehabt, seine Kommentare waren einsilbig ausgefallen. Ja. Nein. Keine Ahnung . Klotz hatte dem verschlossenen Jungen lange in die Augen gesehen. Und was er da gesehen hatte, hatte ihn stutzig gemacht. Da war Fanatismus, da war unterdrückte Wut. Und eine tiefe Resignation und Traurigkeit. Da war etwas, was raus wollte und nicht konnte. Ganz tief im Verborgenen war da etwas, was er, Klotz, zu Tage fördern musste. Dieser Maximilian Rausch, ahnte Klotz, dieser Maximilian Rausch wusste etwas. Etwas Entscheidendes. Das hatte er in seinen Augen gesehen.
Klotz stand auf, nahm seine Tasche und ging.
Eigentlich hatte er zum Parkplatz gewollt, aber in dem allgemeinen Trubel, den die Kinder und Jugendlichen auf den Gängen veranstalteten, hatte er wohl die Orientierung verloren und war schließlich auf dem Pausenhof gelandet. Kreischende Unterstufenschüler jagten sich um Bäume, Büsche und Mülleimer herum. Hie und da sah man Pärchen, die miteinander knutschten, angestrengt und unbeholfen. Andere spielten auf fest installierten Platten Tischtennis. Hier stand auch Willibald Schittkowski und feuerte die Spielenden an. Er sah kurz auf, als Klotz vorübereilte, erhob die Hand zum Gruß und lächelte. Die Oberstufenschüler und Kollegiaten befanden sich jenseits des allgemeinen Tumults am Ende des Pausenhofs. Dümpelten dort auf dem Gehweg herum und rauchten. Klotz erkannte Maximilian Rausch. Er stand abseits, auf der anderen Straßenseite, und unterhielt sich lebhaft mit Anja Löterich und Cem Bülent. Wie sie da aufgeregt an ihren Zigaretten saugten und wild gestikulierten, gewann man fast den Eindruck, als ob sie sich streiten würden. Klotz überlegte. Vielleicht wäre das jetzt ein guter
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