Klotz Und Der Unbegabte Moerder
es aus einer Ecke. Aus einer anderen dröhnte es: »Vorsicht, sonst schmiert er dir gleich eine!«
Die Sache war binnen kürzester Zeit völlig aus dem Ruder gelaufen. Einen Moment lang überlegte er, ob er nicht seine Dienstwaffe herausholen, auf die Glasfläche des Tageslichtprojektors legen und das Gerät einschalten sollte. Dann wäre hier mal Ruhe im Puff! Aber erstens hatte er seine Dienstwaffe nicht dabei, und zweitens dämmerte es ihm, dass sein Konfrontationskurs höchstwahrscheinlich keinerlei Aussicht auf Erfolg haben würde. Deeskalation war jetzt angesagt, so viel hatte er schon kapiert. Mit einem Taschentuch wischte er sich das verschwitzte Gesicht ab und versuchte, sich zu beruhigen. Nach und nach wurde es stiller im Klassenraum.
»Sei’s drum«, rief er mit einer sonoren Stimme, die inzwischen etwas Resigniertes an sich hatte, »dann lassen wir das eben mit dem Aufstehen.«
Er unterstrich seine Worte durch eine majestätische Geste, die eines römischen Imperators würdig gewesen wäre. Jemand hatte zu husten begonnen, und Klotz schien es, als hätte dieser Jemand seinen Hustenanfall mit dem Wort »Schmalzlocke« unterlegt. Geflissentlich ignorierte er den Zwischenruf und konzentrierte sich ganz auf seinen Neuanfang.
»Mein Name ist Bieringer«, sagte er und drehte sich zur Tafel, an der er zu schreiben begann: Herr Bier- … Mist! Das Tafelbrett war zu Ende. Er hätte wohl weiter links ansetzen müssen. Schnell kritzelte er ein unleserliches »inger« unter das »Bier«. Noch bevor die Klasse in allgemeines Gelächter hätte ausbrechen können, störte das Läuten eines Handys das Unterrichtsgeschehen.
»Verweis!«, grölte jemand aus der letzten Reihe.
Das Läuten nahm in seiner Lautstärke zu. Klotz sah sich unbeholfen um. Schließlich erkannte er die Melodie von »Unknown Caller« von U2 und wurde im Gesicht noch etwas roter, als er eh schon war.
»Herr Bier, ich glaube, das ist Ihr …«, sprach ihn ein schmales, blondes Mädchen an, das gegenüber dem Pult saß.
Schnell holte Klotz das immer lauter werdende Handy hervor und stellte es ab. Die Klasse lachte. Allerdings erschien ihm das Gelächter jetzt verändert, etwas weniger hämisch als zuvor. Eine besondere Note hatte sich eingemischt. Etwas, das sich zwischen Mitgefühl und komplizenhafter Sympathie verorten ließ. Vielleicht war dieses Komplizenhafte ja darin begründet, dass unterdessen die Tür geöffnet worden war. Klotz folgte der geänderten Blickrichtung seiner Schüler und erkannte Frau d’Abottiglia-Müller, deren gewaltige Erscheinung im Türrahmen stand. Klotz, dessen Gefühlslage sich mit einem Mal zwischen ängstlicher Bewunderung und uneingestandenem Neid bewegte, registrierte, wie die einschüchternde Aura der Studienrätin in das Klassenzimmer geschwappt war. Es war mucksmäuschenstill geworden.
»Bei Ihnen alles in Ordnung? Ich schreibe gerade einen Test.«
Ohne eine Antwort abzuwarten, hatte die Kollegin die Tür wieder geschlossen. Während Klotz seinen Krawattenknoten lockerte, erkannte er in den Augen seiner Schüler, dass sie das blanke Entsetzen gepackt hatte. Er profitierte von dem Schock, indem er den Bücherkarton öffnete und die gelben Reclambändchen schweigend an die Schüler ausgab. Dem schüchternen Mädchen aus der ersten Reihe reichte er eine Klassenliste und forderte sie auf, von jedem Schüler bis zum Ende der Woche einen Betrag von drei Euro einzusammeln. Dann gab er die Anweisung, den Text selbsttätig zu lesen bis zum Brief vom 17. Mai.
»Als Hausaufgabe?«
»Nein, jetzt, im Unterricht.«
»Allein oder mit dem Nachbarn?«
»Jeder liest für sich allein. Bei Verständnisschwierigkeiten dürft ihr euch gerne mit dem Banknachbarn beraten. Aber leise, im Flüsterton! Ich werde jetzt durch die Reihen gehen. Wenn ich bei euch bin, könnt ihr eventuelle Fragen stellen.«
Es gab da durchaus einige Passagen, die Klotz in diesem »Werther« selber nicht so recht verstand. Was er allerdings ganz gut verstand, war, sich irgendwie herauszureden mit Sätzen wie »Denk noch mal genau darüber nach, vielleicht kommst du ja drauf!« oder »Guck mal in den Anhang, da findest du ganz bestimmt was zu der Textstelle!« Das Ergebnis war, dass sich die Schüler entweder nicht mehr trauten, weiter nachzufragen, oder damit beschäftigt waren, unkoordiniert in der Lektüre herumzublättern, um nach etwas zu suchen, das es nicht gab. Für ein paar Minuten beobachtete Klotz, was er mit seinen diffusen
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