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Knapp am Herz vorbei

Knapp am Herz vorbei

Titel: Knapp am Herz vorbei Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: J.R. Moehringer
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aus dem Ruder.
    Aber jedes Spiel hat auch den einen oder anderen ruhigen Moment. Jeder Homerun bringt eine Atempause mit sich, nicht nur für den Batter, der in aller Ruhe um die Bases laufen kann, sondern für alle, die voller Neid und Wehmut auf den Punkt starren, wo der Ball über die Mauer fliegt.
    In den 1930 ern werden Homerunbälle aus dem Eastern State begehrte Souvenirs in Philadelphia. Und mit der Zeit werden sie zu Luftschiffen. Die Spieler schlagen sie nicht, sie schleudern sie über die Mauer, mit beigefügten Briefen. Gefängnispost wird zensiert, aber einen Ball aus Pferdeleder zensiert niemand.
Wer dies findet, bitte abgeben bei Mickey Whalen, 143  Spruce Street, Phila,
PA . Belohnung!
    Mit der Zeit fliegen auch Bälle
in
den Hof, vollgestopft mit Drogen, Geld, Rasierklingen. Ein Ball enthält eine Dynamitstange im Miniaturformat.
    Willie ist ein Star in der Eastern State Liga, einer, der sehr geschickt mit dem Schläger ist, dem selten ein Strikeout passiert und der die Sache immer schnell hinter sich bringt. Baseball hilft ihm, sich endlich wieder einzugewöhnen und seinen Platz im Kreis der Häftlinge zu finden. Dann versagt sein Knie. Juni 1936 . Sein Aus für die Saison, er wird mit den anderen nicht mehr ganz jungen Spielern auf die Tribüne verbannt. Zwischen den Innings handelt er mit Zeitungen, Zigaretten, Gerüchten.
    Die meisten Insassen in Eastern State sind geniale Lügner, darum ignoriert Willie in der Regel alle Gerüchte. Aber eines ist nicht totzukriegen. Immer wieder hört Willie, dass unter dem Baseballfeld ein Abwasserkanal bis zur Mauer und noch weiter verläuft. Als Willie zusieht, wie die Eastern State Pirates die Eastern State Yankees wegputzen, hört er eine neue Version des bekannten Gerüchts, und zwar von Tick Tock, einem alten Knacki, der alles zu wissen scheint, nur nicht, wie spät es ist. Immer wieder fragt er Willie nach der genauen Uhrzeit, und immer wieder zeigt Willie auf sein uhrloses Handgelenk. Tick Tock erzählt, dass er vor kurzem eine lose Holzdiele im Keller unter Zellenblock  10 entdeckt und tief darunter das unverkennbare Rauschen von Wasser gehört hat: Das muss der Abwasserkanal sein, sagt Tick Tock, und wenn es so laut rauscht, muss in dem Rohr ein Loch sein – wenn ein paar Jungs das Brett also aufhebeln und ein Spargeltarzan da reinschlüpfen könnte, dann vielleicht, könnte ja sein, vielleicht.
    Willie nickt.
    Ist aber bestimmt eklig da unten, sagt Tick Tock.
    Ist es hier auch, sagt Willie.
    Sie machen einen Deal. Willie hilft Tick Tock, einen Liebesbrief an seine Freundin zu schreiben – wie buchstabiert man denn
Fotze
, Willie? –, und dafür hilft Tick Tock ihm, ungesehen in den Keller zu kommen.
    Weihnachten 1936 . Während Psycho Patienten besucht, eilt Willie über den Hof. Bei ihm sind drei Lebenslange, Freunde von Tick Tock. Willie kennt sie kaum, aber Tick Tock sagt, sie sind in Ordnung.
    Ein Gutes an Eastern State ist, dass es zugeht wie in einem kleinen Dorf, mit Dutzenden von Betrieben und Werkstätten, in denen es den ganzen Tag summt und brummt. Sogar die Zellen sind tagsüber offen, damit die Häftlinge ihrer Arbeit frei nachgehen können. Darum denken sich die Wachen nichts dabei, als Willie und drei Lebenslange um die Mittagszeit zügig in Richtung Zellenblock  10 marschieren.
    Tick Tock hat, wie versprochen, ein Fenster unverriegelt gelassen. Willie schlüpft zuerst hinein, dann die drei Lebenslangen. Sie hasten runter in den Keller, finden die lose Holzdiele, hebeln sie auf. Dann streifen sie Schuhe und Socken ab und ziehen sich bis auf die Unterhose aus. Einer nach dem anderen lassen sie sich durch die Öffnung im Fußboden hinab. Sie landen auf der Abwasserleitung, die tatsächlich ein mannsgroßes Loch hat.
    Willie steigt als Letzter durch das Loch. Ein satter Platscher, und er steht bis zu den Schienbeinen in warmem Wasser. Genau genommen gleicht es eher der Bracke aus dem East River vermischt mit eingedicktem Apfelkompott. Es matscht und quatscht zwischen den Zehen, glitscht zwischen seine Waden. Seine Oberschenkel. Aus einem Vorratsraum hat er eine Taschenlampe gestohlen. Er schaltet sie ein. Ungeziefer so groß wie Feldmäuse huscht über die Seitenwände. Der Lichtstrahl durchdringt die Dunkelheit nur mäßig. Er fällt auf einen Müllhügel hier, einen größeren Hügel da, einen Eisberg von Verbandsmull und Binden aus der Krankenstation. Willie erinnert sich, dass das Gefängnis vor mehr als hundert Jahren gebaut

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