Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Knapp am Herz vorbei

Knapp am Herz vorbei

Titel: Knapp am Herz vorbei Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: J.R. Moehringer
Vom Netzwerk:
Straße. Klein, aber möbliert. Kommode, Klappbett, Clubsessel. Mehr braucht er nicht. Der Clubsessel steht am Fenster, durch das am Nachmittag die Sonne scheint. Die ersten paar Tage verbringt er dort, beobachtet die Sonnenuntergänge und denkt nach. Der erste Tagesordnungspunkt, beschließt er, ist sein Gesicht.
    Auf der Suche nach Männern, die er aus dem Knast kennt, streift er durch die Docks und Hafenkneipen. Er findet Dinky Smith, der ihn zu Lefty MacGregor schickt, der ihm die Adresse von Rabbit Lonergan gibt, der ihn zu einem alten Lagerhaus schickt, wo er im Hinterzimmer Mad Dog Kling trifft, der im Licht einer gebogenen Lampe Zeitung liest. Sieh mal einer an, wer da kommt, sagt Mad Dog und blinzelt durch den Lichtkranz hoch. Wenn das nicht Amerikas Meistgesuchter ist.
    Die Zeit nach Sing Sing ist Mad Dog nicht gut bekommen. Sie hat ihn schwer gezeichnet. Mit seinem spitzen Mund, den Glubschaugen und der trüben, niedergeschlagenen Miene erinnert er an das Schicksal von Hiob. Willie denkt unwillkürlich an die Schwarzweißfotos von Farmern aus der Dust Bowl. Er trägt einen ausgebeulten braunen Anzug mit einer ausgefransten blauen Krawatte, sieht aber aus, als sollte er einen Blaumann aus Drillich tragen und zusehen, wie ein Heuschreckenschwarm seine Ernte frisst.
    Willie erklärt Mad Dog, dass er Hilfe braucht. Psycho hat mal ein Netzwerk von in Ungnade gefallenen Ärzten erwähnt, Leuten, die ihre Zulassung verloren haben, aber weiterhin in schäbigen Hinterhöfen praktizieren. Abtreibungen, Kugeln entfernen und so fort. Willie fragt Mad Dog, ob er Verbindungen zu diesem Netzwerk hat. Mad Dog zündet seinen Zigarrenstumpen wieder an.
    Schon möglich, Willie. Aber diese Quacksalber sind nicht billig.
    Ich hab einiges – gespart.
    Mad Dog grinst freudlos. Kann ich mir denken, sagt er. Ich lese Zeitung.
    Nicht so viel, wie du denkst, sagt Willie. Was mich zur nächsten Frage bringt. Womit verdienst du zurzeit dein Geld, Mad Dog?
    Gelegenheitsarbeiten. Dies und das. Für die Jungs vom Hafen.
    Dies und das?
    Du weißt schon. Einer schuldet was, kann nicht zahlen, ich schau vorbei. Auf Wiedersehen Arm.
    Und was kriegst du für so was?
    Fünfzig Mäuse.
    Willie blickt zur Seite. Er hasst Mad Dog, und dieses Gefühl beruht mit Sicherheit auf Gegenseitigkeit. Was für ein Leben ist das, wenn man solche Leute aufsucht, solche Leute braucht? Solche Leute um Hilfe bitten muss?
    Fünfzig Mäuse, sagt Willie. Nicht viel.
    Och, ein Arm ist nicht schwer, sagt Mad Dog, der Willie falsch versteht. Ist schließlich nur ein Gelenk. Du drehst es in die falsche Richtung, und schon macht es knack.
    Willie tritt in den Lichtstrahl der Lampe. Was ich sagen wollte, Mad Dog. Hättest du Lust, mit mir ein paar Banken auszuheben?
    Mad Dog richtet den Zigarrenstumpen auf Willie. Das ist, als würde Marciano mich fragen, ob ich sein Sparringspartner sein will.
     
    Sutton steht vor Dean Street Nummer  340 und zeigt nach oben. An dem Fenster dort saß ich immer. Nachmittags kamen die Kinder aus der Schule die Straße hochgerannt. Als sie mich eines Tages mit dem Gesicht voller Verbände dasitzen sahen, machten sie kehrt und rannten in die andere Richtung.
    Knipser macht an der Haube des Polara eine Rückendehnübung. Verbände, Willie?
    Von der plastischen Chirurgie.
    Schreiber hebt die Hand. Plastische wie bitte?
     
    Er empfängt die Patienten mitten in der Nacht in der Praxis eines sauberen Kollegen, der eine Provision für jede illegale Operation erhält. Mad Dog vereinbart das Treffen und bietet an, Willie hinzufahren, aber Willie möchte die Sache allein hinter sich bringen.
    Eine nervöse Empfangsdame führt ihn in ein kleines Behandlungszimmer. Eine halbe Stunde später kommt der Quacksalber durch eine zweite Tür. Die Haut am Kinn hängt wie ein Euter, seine Wangen sehen aus wie schlaffe Brotteigklumpen. Willie fragt sich, warum Quack sich nicht erst mal von einem seiner Kollegen, zugelassen oder nicht, die eigene Fresse hat richten lassen.
    Hallo, Mr Loring.
    Willie reicht ihm einen Umschlag mit Geld. Quack steckt den Umschlag rasch in die Tasche seines weißen Kittels und fordert Willie auf, sich auf einen mit Papier bedeckten Tisch zu setzen. Dann hält er einen Skizzenblock hoch, zeichnet einen riesigen Kreis, markiert den Kreis mit Xen und gestrichelten Linien. Der Kreis ist offenbar Willies Gesicht.
    Als Erstes mache ich einen fünf Zentimeter langen Schnitt in die Kolumella. Das ist das Gewebe zwischen Ihren

Weitere Kostenlose Bücher