Knapp am Herz vorbei
alte Seemannsheim. Lauschiger Hafen. Da wohnten ein paar tolle alte Klabautermänner. Wir spielten oft zusammen Binokel. Sie waren immer, wirklich immer, betrunken. Konnten Melden und Reizen nicht unterscheiden. Keiner trinkt mehr als irische Seemänner im Ruhestand. Aber nette Burschen. Sie haben mich mit Melville bekannt gemacht. Trotzdem verbrachte ich meine freien Abende lieber mit den Damen der Farm Colony.
Seine liebste ist Claire Adams. Mit ihrer langen faltigen Hand klopft sie oft auf den Stuhl an ihrem Bett. Kommen Sie, Joseph, plaudern wir ein bisschen.
Ja, Mrs Adams.
Sie besteht darauf, dass er sie Claire nennt. Er runzelt die Stirn, schüttelt den Kopf. Für einen so vertraulichen Umgang mit ihr ist sie zu königlich, zu schön. Obwohl sie mindestens doppelt so alt ist wie Joseph, erklärt er ihr, dass er in sie verliebt ist.
Hören Sie auf, sagt sie.
Er legt die Hand auf das Namensschild an seinem Hemd und sagt: Ehrlich. Bis über beide Ohren.
Sie lacht. Wenn Sie das ernst meinten, Joseph, würde ich sofort aus diesem Bett aufstehen und mit ihnen durchs Zimmer tanzen.
Mrs Adams ist durch die ganze Welt gereist. Sie hat mit Vicomtes und Oberbefehlshabern und Nobelpreisträgen gespeist. Sie spricht vier Sprachen, hat das absolute Gehör, und ihr Blick ist so durchdringend, weise und vorurteilsfrei, dass Joseph ihr am liebsten alle seine Geheimnisse erzählen würde. Der Drang, sich ihr mitzuteilen, ist so stark, dass er sich selbst nicht traut. Meistens sitzt er nur da, hält den Mund und überlässt Mrs Adams das Reden.
Sie erzählt ihm oft von der Liebe ihres Lebens.
Ach Joseph, er hatte das schönste Gesicht. Schon wenn ich sein Gesicht sah, wurde ich schwach. Seine Schönheit
quälte
mich, können Sie das verstehen?
Ja, Mam.
Aber meine Eltern waren nicht einverstanden. Er war katholisch, wissen Sie.
Was ist passiert?
Sie haben mich nach Europa verfrachtet. Bildungsreise nannte man das damals, aber für mich war es
le coeur en exil
. Ich fühlte mich so elend wie noch nie. Ich weinte an der Seine. Ich weinte in der Sixtinischen Kapelle. Ich weinte auf dem Canal Grande, ich weinte und weinte. Alles Schöne hat mich traurig gemacht, weil es mich an meinen Harrison erinnert hat. So hieß er. Harrison. Nach zehn Monaten schließlich setzte ich mich bei meinen Eltern durch, fuhr mit dem Schiff zurück nach New York und eilte sofort zu Harrison.
Und?
Er hatte geheiratet.
Nein.
Sie nickt, blickt zur Seite. Es ist so lange her, sagt sie. Und es hat immer noch so eine –?
Kraft, sagt Joseph.
Ja. Das ist das richtige Wort, Joseph.
Juli 1949 . Während Joseph auf das Trocknen einer Schicht Bohnerwachs wartet, sitzt er bei Mrs Adam und blättert die auf dem Bett verstreuten Sonntagszeitungen durch. In einem Zeitungsartikel wird Sartre erwähnt, und das erinnert Mrs Adams an einen berühmten Porträtmaler, für den sie unbedingt Modell sitzen sollte.
Am Beginn unserer Sitzung wollte der junge Künstler, dass ich meinen Hut absetze. Ich tat ihm den Gefallen. Dann sollte ich mein Oberteil ausziehen. Das wollte ich nicht. Er befahl es mir. Da setzte ich meinen Hut wieder auf und stand auf, um zu gehen. Er knirschte mit den Zähnen, raufte sich die Haare und flehte mich an. Er meinte, er könne nie wieder malen, wenn er meinen Körper nicht sehen darf. Und ich meinte, ich könne mir nie wieder ins Gesicht sehen, wenn ich ihm meinen Körper zeige.
Joseph muss lachen. Mrs Adams ebenfalls. Nun, Joseph, ich muss Ihnen sagen, dieser Künstler war sehr –
Sie verstummt. Sie blickt zur Seite, sucht das richtige Wort. Joseph lächelt und wartet. Temperamentvoll? Talentiert? Minuten verstreichen. Sein Lächeln schwindet. Er sieht sich nach einer Schwester um und spürt, wie seine Hände feucht werden.
Dann schaut Mrs Adams wieder zu Joseph, blinzelt einmal und lächelt. Was sagte ich eben noch?
Joseph ist sich nicht sicher, ob sie weiß, dass sie weg war. Er fragt sie nicht.
Ein paar Tage später passiert es wieder. Mitten im Satz blickt Mrs Adams zur Seite und verschwindet, diesmal zehn Minuten lang. Diesmal sind ihre Augen geschlossen. Joseph sieht, wie die Augäpfel sich unter den Lidern bewegen, wie Fische in einem gefrorenen Teich. Er sagt, er müsse wieder an die Arbeit, steht auf, entfernt sich vom Bett.
In den folgenden Wochen passiert es immer wieder, und jedes Mal bleibt sie etwas länger weg. Immer steht er dann widerstrebend auf, beugt sich über ihr Bett und küsst sie auf
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