Knapp am Herz vorbei
vier Tage vor der Landung im New Yorker Hafen. Kummer, Scham, Krankheit – vielleicht alles drei zusammen. Als das Schiff andockte, trugen die Einwanderungsbeamten ihre Mutter weg wie einen Postsack.
Sie sagt Willie, sie heißt Margaret. Willie sagt ihr, er heißt Julius. Sie sitzen in einem Café in der Nähe seines Zimmers in der Dean Street.
Warum trägst du diese dunkle Brille, Julius?
Es sind ein paar Leute hinter mir her, Margaret.
Warum sie hinter dir her, Julius?
Das sage ich lieber nicht, Margaret.
Du hast Verbrechen gemacht, sagt sie leise.
Er zündet sich eine Chesterfield an, starrt auf die Tischfläche. Rückt das Besteck gerade, trinkt einen Schluck schwarzen Kaffee. Und nickt.
Hast du jemand verletzt?
Er gibt keine Antwort.
Sie macht zwei Fäuste, hält sie ihm vors Gesicht. Hast du jemand geschadet?
Ich hab mich sehr bemüht, es nicht zu tun.
Du versprechen?
Ja.
Gut, sagt sie. Nur das wichtig für mich.
Willie und Margaret haben beide kein Telefon, darum verabreden sie sich weit im Voraus. Sie gehen nur spät aus, sehr spät, wenn das Risiko geringer ist, dass man Willie entdeckt, was Margaret nur recht ist. Sie lebt bereits in einer Nachtwelt. Entweder kommt sie zu Willie, oder er holt sie aus ihrem Zimmer am anderen Ende von Brooklyn ab, dann gehen sie in ein durchgehend geöffnetes Diner, in einen Jazzclub oder ins Kino.
Beide lieben sie Filme. Willie fühlt sich am sichersten, wenn er sich in einem dunklen Kino tief in seinen Sitz kauert, das Gesicht in einer Tüte Popcorn, und Margaret fühlt sich am sichersten, wenn sie in eine dramatische Liebesgeschichte versinken kann. Und davon gibt es 1951 einige zur Auswahl. Zusammen sehen sie
Endstation Sehnsucht
,
Ein Amerikaner in Paris
,
African Queen
. Margaret liebt
African Queen
über alles. Als die Musik anschwillt und der Abspann läuft, als die Männer und Frauen im Kino ihre Zigaretten unter den Absätzen austreten und zum Ausgang eilen, berührt Margaret Willies Arm.
Bitte, sagt sie.
Er sieht sie an, lächelt, lehnt sich auf seinem Platz wieder zurück. Klar, sagt er. Ich schätze, mit Bogie und Kate mach ich gern noch mal einen Ausflug auf dem Fluss.
Nach der zweiten Vorstellung gehen sie einen Kaffee trinken. Margaret redet unentwegt von dem Film. Wir sind wie sie, sagt sie.
Wer?
Humphrey Bogie und Kathy Hepburns.
Willie sieht sich im Diner um, ob auch niemand zuhört. Sie tadelt ihn. Keiner will meine Meinung über Humphrey Bogie hören, sagt sie.
Entschuldige, sagt Willie. Macht der Gewohnheit. Was hast du gesagt?
Sie sind auf ihrem lecken Boot, wir auf unserem.
Verstehe. Ja.
Sie gegen die Welt. Wir auch, Julius.
Wer von uns ist Bogie?
Sie lacht, langt über den Tisch und nimmt seine Hand. Du siehst aus wie Bogie.
Willie zuckt mit den Lippen, dreht seine Zigarette.
Ich war nie mit Ihnen einig.
Margaret macht große Augen. Julius, du genau wie er. Du solltest Schauspieler werden.
Ach was.
Was heißt das, fragt sie –
ich war nie mit Ihnen einig?
Ach, sagt er. Nur so ein Ausdruck.
Aber was heißt das?
Das heißt, sie passen zusammen wie die Faust aufs Auge.
Sie blinzelt.
Das heißt, sie sind total verschieden, sagt Willie.
Und was bedeutet es, wenn Bogie sagt:
Ich habe mit allem abgeschlossen, bevor wir losgefahren sind.
Auch so ein Ausdruck. Eine Redewendung.
Aber was heißt das?
Das heißt, ich habe über mein bisheriges Leben genau nachgedacht und mir vorgenommen, es hinter mir zu lassen.
Aber dieser Ausdruck – abgeschlossen –, ich verstehe nicht.
Es heißt einfach – ich bin frei.
Warum sagt er das dann nicht? Das geht doch viel schneller. Wenn er mit allem losgefahren ist, bevor er abgeschlossen hat.
Abgeschlossen hat, bevor er losgefahren ist.
Warum verliert er dann so viel Zeit mit so viel Wörtern? Wenn er so lange losfährt und abschließt, ist er doch nicht frei?
Willie fängt an zu lachen. Ein Stück Kuchen rutscht ihm in die falsche Röhre. Er hustet, lacht noch stärker. Seine Augen füllen sich mit Tränen. Jetzt lacht Margaret auch, und schon bald zeigen sie aufeinander und wischen sich mit Papierservietten die Augen ab.
Ach, Margaret, ich weiß gar nicht mehr, wann ich das letzte Mal gelacht habe.
Die Bedienung hinter der Theke starrt sie an.
Die Kellnerin guckt schon, flüstert Willie.
Sie ist sich nicht einig, sagt Margaret.
Gleich sagen sie uns, dass wir gehen sollen.
Dann fahren wir los, und sie schließen ab.
Wenn sie zusammen ausgehen, übernachtet
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