Knapp am Herz vorbei
die Stirn. Sie bemerkt seinen Kuss nicht. Seine Anwesenheit. Sie ist weit, weit weg. Die Bildungsreise.
Im Spätherbst 1949 sitzt Joseph an Mrs Adams Bett und wartet. Seit fast zwei Tagen ist sie schon weg. Und jetzt, als hätte jemand einen Schalter umgelegt, zittern ihre Augenlider und öffnen sich. Sie dreht den Kopf. Joseph lächelt. Sie lächelt. Ich bin so schnell gekommen wie ich konnte, Harrison.
Joseph fällt der Kiefer herunter.
In Italien musste ich jeden Tag an dich denken. Ich ging langsam zugrunde.
Joseph sieht sich um.
Harrison, hast du auf mich gewartet?
Joseph reibt sich den Nacken.
Harrison, mein Liebster, Vater lässt sich nicht umstimmen. Er ist ein sehr sturer Mann.
Joseph faltet die Hände im Schoß zusammen und entfaltet sie wieder.
Was sollen wir denn machen, Harrison?
Joseph zupft sich am Ohrläppchen.
Harrison
?
Wir – brennen durch.
Ihr Gesicht leuchtet auf. Wann?
Joseph räuspert sich. Bald, sagt er.
Wo wollen wir uns treffen, Harrison?
Du weißt schon.
Sie sieht sich suchend um. Wo?
Komm zu mir in den Garten, Maud.
An dem Ort, sagt Joseph. Unserem geheimen Ort.
Ich liebe dich so sehr, Harrison.
Ich liebe Sie, Mrs – Claire.
Als es so weit ist, hebt Joseph sie vom Bett und trägt sie zum Wagen. Er legt sie auf den Marmorblock, hält eine Weile ihre Hand. Dann geht er die Oberschwester suchen.
Mam?
Was ist, Joseph? Ich bin beschäftigt.
Mich würde nur interessieren, Mam, was aus Mrs Adams wird.
Die Oberschwester zupft an ihrer elastischen Tracht. Das, was aus allen wird, Joseph.
Gibt es denn keine Familie?
Keine, die gefunden werden will.
Wohin – wo wird sie beerdigt?
Die Oberschwester starrt auf Josephs Fußboden. Auf dem Armenfriedhof. Das ist so üblich.
Joseph wartet bis nach Mitternacht. Ein dunstiger Regen fällt. Er geht zur Fähre, schippert nach Manhattan, fährt mit der U-Bahn nach Brooklyn. Er läuft zum Prospect Park, setzt sich auf eine Bank und vergewissert sich, dass ihm niemand gefolgt ist. Dann gräbt er rasch ein Glas mit Bankraubgeld aus. Dreißig Meter von Meadowport entfernt.
Er huscht hinter einen von der Straße nicht zu sehenden Felsbrocken und hebelt das Glas auf. Es ist fest versiegelt, aber nicht fest genug. Feuchtigkeit ist eingedrungen. Die Geldscheine sind vom Schimmel zerfressen. Das Planen, das Risiko, die vielen Jahre im Gefängnis – nur dafür?
Dafür
? Joseph starrt auf Ulysses Grants fleckiges Gesicht. Eine schreckliche Kälte überkommt ihn, als er überlegt, wie luftdicht Mrs Adams Sarg wohl sein wird.
Von sechzigtausend Dollar kann er ungefähr neuntausend retten. Den Rest wirft er in einen Mülleimer. Mit gesenktem Kopf und hochgeschlagenem Kragen macht er sich auf den Weg zur Fähre, aber seine Füße tragen ihn in eine andere Richtung. Nach ein paar Minuten stellt er fest, dass er die President Street entlanggeht. Er spürt sein Herz schlagen, als er sich dem Endner-Haus nähert. Es sieht noch genauso aus. Das Buntglas, die schicken Balustraden, der Eisenzaun. Am Zaun entlang hat jemand einen kleinen Garten angelegt. Thunbergien, Bittersüßer Nachtschatten, Pfingstrosen. Mehrere Rosensorten. Es brennt kein Licht. Er schleicht zum Briefkasten. Kein Name. Man kann nicht sehen, wer dort wohnt und ob überhaupt jemand.
Ein paar Stunden später, zurück auf der Farm Colony, schleicht Joseph ins Leichenschauhaus und legt einen weißen Umschlag voller Fünfziger auf Mrs Adams Brust. Um das Geld ist ein Briefchen gebunden.
Gebt ihr das volle Programm.
Ein paar Frauen in dem Laden haben mich wirklich geprägt. Eine war Mrs Adams. Sie hat mich daran erinnert, dass wir nur einmal leben.
Pflück deine Rosenknospen, sagt Schreiber.
Pflück was immer du verdammt nochmal pflücken musst. Aber mach das Beste draus.
Sutton greift in die Brusttasche seines Anzugs und zieht den weißen Umschlag heraus.
Mr Sutton, warum sehen Sie sich ständig Ihre Entlassungspapiere an?
Nur so. Kommt mit. Ich möchte euch gern was zeigen.
Mrs Adams ist die Erste von vielen. Kaum stirbt eine Frau, finden die Schwestern einen Umschlag mit Geld auf ihrer Brust. Manche sagen, es sei von Gott. Andere sagen, es sei vom Engel der Farm Colony.
Joseph kann nicht anders. Er weiß, dass er ein großes Risiko auf sich nimmt, aber es ist seine einzige Freude. Seine einzige Dummheit.
Dann der 17 . Januar 1950 . Im North End von Boston überfällt eine Bande das Brinks Building und erbeutet drei Millionen Dollar, der größte
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