Knapp am Herz vorbei
Nasenlöchern. Dann lege ich die Haut zurück. Dann schneide ich alles überflüssige Knorpel- und Narbengewebe weg und schleife alles Unsymmetrische und vorstehende Knochen ab. Im Wesentlichen gebe ich der Nase, die Gott Ihnen gegeben hat, eine neue Form. Aufgrund der, ähm, besonderen Umstände muss ich schneller arbeiten als sonst. Und ich habe keinen Assistenten. Ich muss Ihnen also sagen, dass die Operation möglicherweise nicht ideal verläuft und das Risiko größer ist als normalerweise bei einem Eingriff dieser Art. Infektion und so fort.
Was gedenken Sie gegen die Schmerzen zu tun?
Sie kriegen eine Vollnarkose.
Nein. Ich will nur örtliche Betäubung.
Willie lässt sich von keinem eine Vollnarkose geben. Er hat zu viele Geheimnisse, zu viele Erinnerungen an Psycho, den schleimigen Hypnotiseur. Quack macht große Augen. Wie Sie möchten, Mr Loring.
Er findet es prickelnd, dass Willie wach bleiben will. Außerdem ist er auch ein bisschen zu scharf darauf, mit dem Schneiden anzufangen. Er fragt, ob er Willie vielleicht gleich auch die Augen mitmachen soll, wenn er schon dabei ist. Die Lider ein wenig heben? Bleiben Sie von meinen Augen weg, sagt Willie. Er betrachtet wieder das Schaubild auf dem Block. Es beunruhigt ihn, dass Quack das Wort nasal falsch geschrieben hat. Willie wünscht, er hätte Mad Dog gefragt, warum er seine Zulassung verloren hat. Als er Quack seine Klingen streicheln sieht, kommt er zu dem Schluss, dass es vermutlich etwas Schlimmes war.
Willie legt sich zurück. Schon spürt er die Nadel. Der Schmerz ist erträglich. Traumatisch wird die Operation erst durch die anderen Gefühle. Willie spürt jeden Schnitt, jedes Schleifen, jedes Knirschen. Was für ein aggressiver Eingriff in einen so zarten Körperteil. Er denkt an das Durchsägen der Gitterstäbe in seiner Zelle, das Abtragen des Steins unter Eastern State. Er denkt an seinen auf den Amboss hämmernden Vater. Dann verliert er das Bewusstsein.
Als er die Augen öffnet, sind die Lichter aus. Quack ist verschwunden, die nervöse Empfangsdame ebenfalls. Willie liegt immer noch auf dem mit Papier bedeckten Tisch, immer noch auf dem Rücken. Er hat das Gefühl, als hätte man ihm die Nase entfernt und das Loch mit einem Zeltpflock gefüllt. Er rollt sich vom Tisch und taumelt zum Wandspiegel. Er hat zwei schwarze Augen und über seinem Gesicht verlaufen x-förmig zwei blutdurchtränkte Verbände.
Willie zieht den Filzhut tief in die Stirn und geht nach Hause. Auf der Treppe begegnet er der Vermieterin. Sie schreit gellend auf, brabbelt vor sich hin. Zum Glück hat er sein Spanisch bei ihrer erwachsenen Tochter aufgefrischt.
Estoy bien, sagt er. No es nada. Gracias. Me metí en una pelea con unos hombres en un bar
.
Wochenlang versteckt Willie sich in seinem Zimmer. Mad Dog bringt ihm Essen und Bücher – ein groteskes Sammelsurium an Titeln. Willie bat Mad Dog, ihm ein paar gute Bücher zu besorgen. Der Buchhändler war vermutlich davon ausgegangen, dass Mad Dog Bücher aus dem Kanon »Das gute Buch« meinte. Während Willie sich also erholt, begegnet er zum ersten Mal Dante, Woolf und Proust.
Proust überwältigt ihn. Die Sätze sind so lang, dass ihm die Nase weh tut. Entweder ist dieser Proust verrückt, oder aber Willie verträgt die Schmerzmittel nicht, die Mad Dog ihm auf dem Schwarzmarkt besorgt. Er wird aus der Handlung einfach nicht schlau. Es gibt keine Handlung. Trotzdem endet manchmal ein endlos langer Satz mit einem Bild, das Willie die Kehle zuschnürt, oder eine Redewendung setzt eine vergessene Erinnerung frei. Tief in seinem Inneren reagiert etwas auf Prousts Besessenheit von Zeit, seine Nichtachtung der Zeit. Nur ein Mann, der sich im Krieg mit der Zeit befindet, würde ein Buch mit einer Million Wörtern schreiben. Willie freut sich schon auf den sechsten Band –
Die Flüchtige
.
Auf Willies Bitte bringt Mad Dog ihm auch
Peace of Soul
von Bishop Fulton J. Sheen. Willie hat eine Kritik darüber in der Zeitung gelesen. Der Autor war besorgt um sein Seelenheil, er sehnt sich nach Frieden – es klang interessant. Genau genommen fesselt ihn das Buch. Er bleibt die ganze Nacht auf, liest es von Anfang bis Ende, blättert zurück und liest die Passagen über das schlechte Gewissen. Ganze Absätze scheinen sich an ihn zu richten. Ein schlechtes Gewissen ist laut Sheen eine Sünde. Ein schlechtes Gewissen ist hochmütig und ichbezogen. Judas hatte ein schlechtes Gewissen. Stattdessen, so Sheen, sollten wir
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