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Knapp am Herz vorbei

Knapp am Herz vorbei

Titel: Knapp am Herz vorbei Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: J.R. Moehringer
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Raubzug in der amerikanischen Geschichte. Die Polizei sagt, das Verbrechen sei so kühn und elegant, dass es einfach das Werk von Willie Sutton sein muss, dessen Bild erneut auf allen Titelseiten erscheint.
    Joseph hält den Kopf gesenkt, wischt weiter Fußböden und hofft, dass alles bald wieder vergeht. Auf der anderen Seite des Flurs ruft jemand seinen Namen.
    Joseph. Ach, Joseph.
    Er dreht sich um. Die Oberschwester marschiert über seinen nassen Fußboden. Wenn die Oberschwester seine NASSER FUSSBODEN -Schilder missachtet, kann das nichts Gutes bedeuten.
    Sie bleibt vor ihm stehen und sieht ihm ins Gesicht. Joseph, sagt sie.
    Mam.
    Joseph ist gar nicht Ihr Name, oder?
    Mam?
    Sie sind Willie Sutton.
    Sie reicht ihm die Zeitung. Er schaut das Foto an. Dann sie. Ja, sagt er seufzend. Ja. Sie haben mich erwischt.
    Ich – was?
    Ich bin Willie Sutton, sagt er – was für eine Erleichterung, es endlich laut auszusprechen.
    Die Farbe weicht langsam aus dem Gesicht der Oberschwester.
    Ich wusste, irgendwann kommt dieser Tag, sagt er. Wahrscheinlich kann ich von Glück sagen – immerhin hatte ich ein paar schöne Jahre.
    Aber – was?
    Joseph wartet. Und wartet. Das wäre wirklich zum Schießen, sagt er. Ich und Willie Sutton. Mit all seinem Geld? Ein Überflieger wie Willie the Actor würde niemals Fußböden in der Farm Colony wischen. Nichts für ungut, Mam.
    Die Oberschwester sieht Joseph an, dann die Titelseite. Sie holt tief Luft. Stimmt, sagt sie und lacht plötzlich. Ich weiß nicht, was in mich gefahren ist. Tja. Aber er sieht Ihnen wirklich ähnlich.
    Wahrscheinlich. Um die Augen herum ein bisschen.
    Er widmet sich wieder seinem Fußboden.
     
    Sutton führt Schreiber und Knipser hinter der Frauenstation durch Schlamm und nasse Blätter einen glitschigen Hügel hinunter. Schreiber packt Sutton gerade noch, bevor er stürzt. Danke, Kleiner. Sie zwängen sich durch ein Baumdickicht auf eine Lichtung. Ein Sonnenstrahl trifft wie ein Pfeil auf den Stamm eines gewaltigen Apfelbaums. Sutton tritt vorsichtig näher. Er setzt die Brille auf, untersucht die Rinde und lächelt. Ein zerklüftetes Herz ist in die Rinde geritzt. Innen sind drei Buchstaben.
    Was ist das, Mr Sutton?
    Knipser tritt näher. S-E-E?
    Ihr steht jetzt in Willies heiligem Hain.
    Moment mal. S-E-E? Sarah Elizabeth – Bess? Sie war hier?
    Nach der Brinks-Sache landete ich auf der Liste der Meistgesuchten. Ihre allererste Liste überhaupt. Eigentlich eine Ehre. Sie führten meine Decknamen auf, meine Frauen – angefangen bei Sarah Elizabeth Endner. Ich wusste, sie würde sich aufregen. Ich schlug sie im Telefonbuch nach – ich erinnerte mich an ihren Ehenamen. Und warum erinnerte ich mich? Weil sie Richmond hieß. Und ich lebte in Richmond. Ist das etwa kein Zeichen? Und natürlich war sie in Brooklyn. Wie erwartet, war sie außer sich. Sie war verstört. Wusste nicht, was sie tun sollte. Reporter riefen sie an, Cops riefen sie an. Ein paar Stunden später traf ich sie am Bootsanleger. Wir setzten uns in ihr Auto und fuhren hierher. Uns blieben nur ein paar Stunden, bis sie wieder zurückmusste. Aber so ist das nun mal im Leben. Ein paar Stunden hier, ein paar Stunden dort. Wenn du Glück hast. Das hat mir Mrs Adams beigebracht. Sie ist auf der anderen Hügelseite begraben.
    Knipser fotografiert Sutton, den Baum. War Bess noch verheiratet?
    Ja, Kleiner. War sie.
    Schreiber schaut in den Himmel. Die Sonne geht langsam unter, Mr Sutton. Ich reiße Sie wirklich ungern von Ihrem heiligen Hain weg, aber wir stehen unter Zeitdruck. In knapp zwei Stunden muss ich meine Geschichte abgeben. Wir müssen also nach Brooklyn fahren.
    Zurück nehmen wir die Verrazano Bridge, sagt Knipser. Das geht schneller.
    Okay, sagt Sutton.
    Noch ein Halt auf Ihrer Karte, Mr Sutton. Dean Street. Und dann – Schuster?
    Mm.
    Mr Sutton.
    Ja, Kleiner. Ja. Wie du willst.

Einundzwanzig
    Willie versteht den Namen der Vermieterin nicht. Etwas wie Mrs Influenza. Sie spricht kein Englisch, und er spricht Gefängnis-Spanisch, ihre Verständigung gestaltet sich deshalb mühevoll. Er erzählt ihr, dass er Veteran ist, dass er Ruhe braucht, dass er Julius Loring heißt. Sie lächelt verwirrt. Er zählt zweihundert Dollar ab, sechs Monatsmieten im Voraus. Die Sprachbarriere bröckelt.
    Die Adresse ist 340  Dean Street. Ein schmales, zweigeschossiges Schindelhaus im spanischsprachigen Viertel. Die Hauswirtin gibt Willie ihr bestes Zimmer, oberes Stockwerk, Blick auf die

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