Knapp am Herz vorbei
wie Arnie im Fernsehen als Held gehandelt wurde, ist er explodiert. Diesem Pfadfinder steht eine Belohnung zu? Weil er einen anständigen Kerl wie Willie Sutton verpfiffen hat? Für die unterschiedlichsten New Yorker – irischstämmige, eingewanderte, arme – war Willie ein Held, aber für die New Yorker Unterwelt war er ein Gott. Darum hat Anastasia den Todesengel geschickt, um das Problem Arnie zu beseitigen. Diese Geschichte hört Willie in Attica.
Die überzeugendste Version jedoch erzählt Crazy Joey Gallo, der eine siebenjährige Strafe wegen Erpressung absitzt. Und Crazy Joe setzt schließlich einen krassen Schlusspunkt. Fünf Jahre nach dem Mord an Arnie brachte Crazy Joe Anastasia in einem Friseurladen in Midtown um. Während Anastasia unter einem heißen Handtuch auf einem Stuhl lag, marschierten Crazy Joe und seine Brüder durch die Tür und nieteten alles um. Laut Crazy Joe wurde der Mord von einem Gangsterboss angeordnet, der Anastasia nicht brauchen konnte und dem es nicht gefiel, wie Anastasia Geschäfte erledigte und unter anderem einen unschuldigen Zivilisten wie Arnie aufs Korn genommen hatte. So viel Blut, so viel heilloses Durcheinander, und alles nur, weil Willie und Arnie an einem Februarnachmittag in derselben U-Bahn saßen.
Einen Großteil der sechziger Jahre verbringen Willie und Crazy Joe bei den Hofgängen zusammen, tauschen Geschichten, Zigaretten und Bücher. Aufgrund ihrer gleichen Herkunft und ähnlichen Laufbahnen werden sie gute Freunde. Beide wuchsen sie in Brooklyn auf, beide hatten zwei Brüder, beide fingen als Kleinkriminelle an und waren am Ende Volkshelden. Aber Crazy Joe führt seinen Namen zu Recht – er trägt einen Strohhut wie van Gogh, stellt eine Staffelei in den Gefängnishof und malt Porträts von den Aufsehern –, daher weiß Willie nicht so recht, welche Teile stimmen und welche Crazy Joes verrückter Phantasie entspringen, als er ihm seine Version von Arnie und Anastasia erzählt. Willie kommt letztlich zu dem Schluss, dass es egal ist. Die Geschichte klingt irgendwie plausibel, und sie schließt eine Lücke in Willies Kopf. Was will man mehr von einer Geschichte?
Bitte, Willie, sagt Knipser, ich brauche nur noch das eine Foto von Ihnen vor dem Schuster-Haus, dann können wir alle gehen und zu Abend essen. Bitte, bleiben Sie nur einen Moment ruhig stehen.
Sutton klopft seine Taschen ab und schaut zum Polara. Erst muss ich eine rauchen. Diese ganze Sache – der ganze Tag –, ich zittere wie Espenlaub.
Nein, sagt Knipser. Erst das Foto. Dann die Zigarette.
Wenn ich keine rauche, kipp ich aus den Latschen. Wenn ich aus den Latschen kippe, gibt es kein Foto.
Knipser seufzt, lässt die Kamera sinken. Na gut.
Meine Zigaretten liegen im Auto.
Nehmen Sie eine von mir.
Ich rauche nur Chesterfield.
Sutton humpelt die Straße hoch. Zu seiner Rechten ist die Gasse. Er mahnt sich, nicht hinzusehen, tut es aber doch. Die blauen Wildlederschuhe, die blutenden Augen. Er erinnert sich weder an die Fotos noch an die Titelseiten, er sieht Arnie vor sich. Der junge Mann ist hier. Zu Suttons Füßen. Sutton sieht ihn.
Er überquert die Straße, lehnt sich an den Polara. Er sieht seine Chesterfields auf dem Rücksitz liegen. Er sieht den Schlüssel im Zündschloss stecken und dass Knipser den Motor hat laufen lassen.
Er zögert keine Sekunde, setzt sich ans Steuer und fährt davon.
Dreiundzwanzig
Seine Nerven. Herrgott, seine Nerven. Er braucht Ablenkung. Er stellt UKW ein. Nachrichten. Er dreht am Senderknopf. Jagger.
Vergewaltigung! Mord!
Er dreht am Senderknopf. Sinatra.
Have yourself a Merry Little Christmas.
Eddie sagte immer, Sinatra könne kein reiner Spaghettifresser sein. Er ist zu glatt, Sutty, er muss was Irisches haben. Armer Eddie. Sutton steigen Tränen in die Augen. Er kann die Straßenlaternen nicht sehen.
Er wischt sich die Augen trocken, holt den weißen Umschlag aus seiner Brusttasche, öffnet ihn mit den Zähnen. Er zieht das lose Blatt heraus und versucht Donalds betrunkene, kindliche Handschrift zu lesen.
Links an der Thirty-Ninth? Nein. Wahrscheinlich Thirty-Seventh.
Rechts an der, was soll das heißen, Furth? Nein, gibt’s nicht. Wahrscheinlich Fifth.
Und Schreiber hat sich über
Suttons
Handschrift beklagt! Er hämmert aufs Lenkrad. Donald, du verrückter Säufer. Du kannst alles verticken, jedes Schloss knacken. Du kannst jeden, ob tot oder lebendig, innerhalb einer Stunde ausfindig machen – wieso um alles in der Welt
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