Knapp am Herz vorbei
nur geträumt habe, es mal sagen zu können, und jetzt ist es zu spät. Hätte mir damals, als ich so alt war wie Sie, doch bloß jemand gesagt, dass man immer sofort aussprechen muss, wenn einen etwas bewegt, denn wenn der Augenblick erst mal vorbei ist – tja, Kindchen, dann ist er vorbei.
Sie lächelt unsicher. Sie hat blaue Augen, ja, ganz bestimmt, aber die verdammte Straße ist so dunkel, dass man unmöglich sieht, ob – Er würde gern näher treten, damit er sie besser sieht, aber er möchte ihr keine Angst einjagen. Sie ist die Jugend und Unschuld in Person und er ein uralter Bankräuber, der an Weihnachten durch die Stadt stromert.
Soll ich Ihnen was sagen, Kindchen? Ich rede dummes Zeug. Ich bin ein alter Trottel. Danke für Ihre Freundlichkeit.
Er schlägt den Pelzkragen des Trenchcoats hoch, winkt und entfernt sich langsam.
Aber – warten Sie, ruft sie ihm hinterher.
Er bleibt stehen, dreht sich um und sieht sie eilig die Treppe runterkommen.
Wenn es etwas gibt, das Sie gern sagen wollten, Mr Sutton, dann können Sie es doch vielleicht immer noch sagen.
Was? Ach, ich glaube nicht.
Aber warum denn nicht?
Nein. Das könnte ich nie. Nein.
Sie tritt auf ihn zu, bleibt zehn Meter von ihm entfernt stehen. Irgendwie ist es schade, dass Sie einen so weiten Weg gekommen sind und dann weggehen, ohne zu sagen, was Sie sagen wollten. Das sagten Sie ja selber. Wenn einen etwas bewegt. Und natürlich bin ich neugierig.
Ja. Aber ich weiß nicht.
Ich habe meine Großmutter sehr geliebt, Mr Sutton. Und sie hat mir alles erzählt. Alles. Zwischen uns gab es keine Geheimnisse. Sie meinte immer, ich sei die beste Zuhörerin der Familie. Und ich mag die alten Geschichten wirklich. Ich bin so was wie die Hüterin der Familiengeschichte.
Hüterin.
Sie tritt näher. Sieben Meter von ihm entfernt. Sie bleibt stehen. Der Gehsteig zwischen ihnen glitzert, als wäre er mit Diamantsplittern gepflastert. Außerdem ist Weihnachten, fügt sie hinzu, und ich habe so das komische Gefühl, meine Großmutter hätte gewollt, dass ich – ich weiß nicht. Zuhöre? Für sie einspringe?
Deine Stimme klingt wie ihre, Kindchen.
Tatsächlich?
Da kommen Erinnerungen auf.
Wirklich?
Komm zu mir in den Garten, Maud.
Wie bitte?
Deine Großmutter hatte die schönste Stimme, die ich je gehört habe. Vor allem, wenn sie ihre Lieblingsgedichte laut vorgelesen hat.
Richtig, Mr Sutton, das stimmt. Ich höre sie ständig in meinem Kopf. Wenn ich Angst habe, wenn ich Ärger habe: Geh das Risiko ein, Kate. Versuch es, Kate, du hast nichts zu verlieren. Sie war so furchtlos.
Furchtlos. Das war sie. Ich seh sie immer noch vor mir, an einem verschneiten Tag im Jahr 1919 , als halb New York nach uns suchte – und sie hatte kein bisschen Angst. Sie hatte mehr Mumm als Happy und ich zusammengenommen.
Oh, die Geschichte hat sie sehr gern erzählt.
Ja?
Happy muss ein Bild von einem Mann gewesen sein.
Sutton strafft die Schultern, stößt einen Seufzer aus. Die Sache ist die, sagt er. Ich wollte eigentlich nur.
Ja?
Sagen.
Mhm?
Seine Augen füllen sich mit Tränen. Es ist nur, dass ich nie. Ich meine, ich kann nicht. Ach Bess. Du fehlst mir einfach so sehr.
Schweigen. Er wartet. In der Ferne heult ein Krankenwagen. Dann fährt er vorbei, es wird wieder still. Durch seine Tränen sieht er nichts, aber er weiß, er hat die Situation falsch eingeschätzt. Beschämt neigt er den Kopf und sackt in sich zusammen.
Dann: Du fehlst mir auch, Willie.
Er hält den Atem an. Tritt einen halben Schritt zur Seite, taumelt leicht.
Bess, sagt er. Ach herrje. Ich weiß, mein Leben war erbärmlich. Aber nicht aus den Gründen, wie manche denken. Die Verbrechen, die Zeit im Gefängnis, all das bedauere ich nicht. Am meisten bedauere ich, dass du und ich – dass wir nie.
Ich habe meiner Enkeltochter so oft gesagt, dass ich hoffe, du würdest – darüber hinwegkommen.
So wie du? Du hast geheiratet.
Ja.
An dem Tag bin ich gestorben.
Ich weiß.
Als ich sah, wie du den Gang entlanggingst.
Ich war so – überrascht –, dich in der Kirche zu sehen. Die Geschichte habe ich meiner Enkeltochter auch oft erzählt.
Hätten wir doch bloß sofort geheiratet, Bess. Wie wir es geplant hatten.
Was heißt hier wir? Hätten wir bloß sofort geheiratet? Irgendwie versteh ich Sie nicht.
Mit dir an diesen wenigen Tagen zusammen zu sein, auf der Flucht, das war der Höhepunkt meines Lebens, Bess.
Aber Entschuldigung, ich kann nicht folgen. Ich
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