Knapp am Herz vorbei

auf ihre Schulter. Der Fels-Geruch. Er gibt ihm ein Gefühl der Sicherheit und stimmt ihn gleichzeitig traurig.
    Spätherbst 1911 .
    Mutter springt vom Alten Testament zum Neuen und wieder zurück, klatscht auf die zerknitterten Seiten, murmelt, verlangt eine Antwort.
Die
Antwort. Jede Pause gibt Daddo die Gelegenheit, mit seinem Stock zu klopfen und die erhabene Weisheit Jesu zu kommentieren. Jetzt ist sie beim Buch Genesis, der Geschichte von Joseph und seinen Brüdern. Willies Gedanken treiben auf dem rhythmischen Strom ihrer Stimme und dem Rascheln der Kartoffelsackvorhänge.
Als sie ihn nun sahen von ferne, ehe er nahe zu ihnen kam, machten sie einen Anschlag, dass sie ihn töteten, und sprachen untereinander: Seht, der Träumer kommt daher! So kommt nun und lasst uns ihn töten und in eine Grube werfen und sagen, ein böses Tier habe ihn gefressen; so wird man sehen, was seine Träume sind.
    Willie hebt den Kopf von Mutters Schulter.
    Als nun Josef zu seinen Brüdern kam, zogen sie ihm seinen Rock aus, den bunten Rock, den er anhatte, und nahmen ihn und warfen ihn in die Grube; aber die Grube war leer und kein Wasser darin.
    Von Schluchzern geschüttelt, schlägt Willie die Hände vors Gesicht. Mutter hört zu lesen auf. Daddo legt den Kopf schief. Der Junge, sagt er, wurde vom Heiligen Geist berührt.
    Vielleicht wird er später ja Priester, sagt Mutter.
    Am nächsten Tag nimmt sie ihn aus der staatlichen Schule Nummer  5 und meldet ihn in St. Ann’s an.
     
    Knipser späht in den Rückspiegel, er fährt sehr schnell. Er späht schneller, fährt schneller. Schreiber, der sich Notizen machen will, kann seinen Stift nicht ruhig halten. Er dreht sich zu Knipser. Warum fährst du eigentlich, als würden wir verfolgt?
    Weil man uns verfolgt.
    Schreiber schaut aus dem Heckfenster und sieht den Wagen eines Nachrichtensenders, der an ihrer Stoßstange hängt. Wie zum Teufel konnten die uns finden?
    Wir waren ja nicht gerade unauffällig. Vielleicht hat jemand gesehen, wie ein gewisser Bankräuber mitten auf der Straße in Ohnmacht fiel?
    Knipser tritt das Gaspedal durch, überfährt eine rote Ampel. Er reißt das Steuer nach links und macht einen Schlenker, um einem in zweiter Reihe geparkten Laster auszuweichen. Sutton, der auf dem Rücksitz herumgeworfen wird wie eine Socke in einem Trockner, schmeckt den Champagner von heute Morgen und den Whiskey von letzter Nacht. Er stellt fest, dass er gestern Mittag in Attica zum letzten Mal etwas Richtiges gegessen hat – Rindfleischeintopf. Den schmeckt er jetzt auch. Er legt eine Hand auf seinen Bauch, weil er weiß, was gleich kommt. Er will das Fenster nach unten drehen, aber es klemmt. Oder ist verriegelt. Umgebautes Polizeiauto. Er sieht sich um. Auf dem Sitz neben ihm liegen Knipsers Kameratasche und sein Stoffbeutel. Er öffnet die Kameratasche. Teure Objektive. Er öffnet den Stoffbeutel. Notizbücher, Taschenbücher,
Malcolm X. Die Autobiographie
, Mailers
Heere aus der Nacht
, eine Plastiktüte voller Joints – und eine Geldscheintasche. Sutton streicht über die Geldscheintasche.
    Er sieht die rosa Schachtel mit den Donuts, hebt den Deckel. Er merkt, dass sein Magen sich zusammenzieht und es ihm gleich gewaltig hochkommt. Er schließt die Augen, schluckt und wehrt sich erfolgreich gegen den aufsteigenden Brechreiz.
    Knipser fährt scharf nach rechts in Richtung Bordstein. Der Polara schlingert. Mit quietschenden Reifen und Bremsen kommen sie unsanft zum Stehen. Der Geruch nach verbranntem Gummi erfüllt das Auto. Schreiber kniet auf dem Vordersitz und schaut durch das Heckfenster. Sie sind weg, sagt er zu Knipser. Gut gemacht.
    Es lohnt sich offenbar doch,
Mod Squad
zu sehen, sagt Knipser.
    Einen Augenblick lang sitzen alle drei schwer atmend da. Sogar der Polara keucht. Dann fädelt Knipser wieder in den Verkehr ein. Wo war noch mal unser nächster Halt?
    Ecke Sands und Gold. Richtig, Mr Sutton?
    Sutton brummt.
    Sands und Gold? Herrgott, von da kommen wir doch gerade.
    Tut mir leid. Mr Suttons Karte ist irgendwie schwer zu lesen.
    Beim Zeichnen war ich ziemlich dem Champagner zugetan.
    Der Polara fährt durch ein Schlagloch. Suttons Kopf knallt ans Dach, sein Arsch auf den Sitz.
    Du brauchst nicht mehr wie ein Irrer zu fahren, sagt Schreiber.
    Das bin nicht ich, sagt Knipser, das sind die Straßen. Und ich glaube, der Polara ist hinüber.
    Willie ist hinüber, krächzt Sutton.
    Der Polara fährt wieder durch ein Schlagloch.
    Ein Sechstel Schwerkraft,