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Knapp am Herz vorbei

Knapp am Herz vorbei

Titel: Knapp am Herz vorbei Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: J.R. Moehringer
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murmelt Sutton.
    Wir sind fast da, Mr Sutton. Alles in Ordnung?
    Mir ist eben was klargeworden, Kleiner.
    Und was, Mr Sutton?
    Ich sitze ohne Handschellen hinten in einem Funkwagen. Wahrscheinlich hat mich das heute früh aus dem Gleichgewicht gebracht. Darum fühle ich mich leicht neben der Kappe. Mir ist, als wäre ich – nackt.
    Handschellen?
    Wir haben sie immer Armreifen genannt. Die Nachbarn sagten: Habt ihr schon gehört, den armen Eddie Wilson haben sie in Armreifen weggebracht?
    Sutton hält seine Handgelenke hoch und mustert sie aus verschiedenen Blickwinkeln. Die violetten Adern, aufgeblasen und wurmartig. 
    Knipser grinst Sutton im Rückspiegel an. Wenn Sie Handschellen möchten, Mann, können wir Ihnen welche besorgen.
     
    Zwei Klassenkameraden in St. Ann’s werden Willies Freunde. William Happy Johnston und Edward Buster Wilson. So werden sie meistens in den Zeitungen genannt. Jeder in Irish Town weiß, dass Willie der Schlaue ist, Happy der Gutaussehende, Eddie der Gefährliche. Und jeder in Irish Town weiß, vor Eddie Wilson muss man sich in Acht nehmen.
    Früher war er so ein liebes Kind, sagen die Irish Towner. Dann wurden seine Tante und sein Onkel krank. Die Lungenkrankheit. Sie mussten bei Eddies Familie einziehen – entweder das oder ein Pesthaus. Die Arztrechnungen trieben Eddies Familie in kürzester Zeit in den Ruin. Es war nach der Panik von 1907 , das Land steuerte auf eine Depression zu. Die Leute in Irish Town ließen den Hut herumgehen und bewahrten Eddies Familie davor, auf der Straße zu landen, aber Eddie fühlte sich eher beschämt als erleichtert. Dann verlor Eddies alter Herr seinen Job als Bohrarbeiter. Wieder ging im Viertel der Hut herum, und wieder zuckte Eddie zusammen. Schließlich bekam Eddies Mutter die Lungenkrankheit, und es fehlte am Geld für einen Arzt. Sie und Eddie standen sich besonders nahe, flüsterten die Nachbarn bei der Beerdigung.
    Über Nacht ging mit Eddie eine Veränderung vor, da stimmen alle überein. Seine königsblauen Augen wurden hitzig. Seine Augenbrauen bildeten immer ein zorniges V. Er war ständig gekränkt und gewaltbereit. Als die Italiener langsam nach Irish Town kamen, machte Eddie es sich zur Aufgabe, sie fernzuhalten. Man hörte ihn nur noch über die
Itaker
oder die
verdammten Spaghettifresser
schimpfen. Alle paar Wochen war er in einen neuen höllischen Streit verwickelt.
    Als sie sich zum ersten Mal begegnen, sieht Willie nur Eddies Mut, nicht seinen Schmerz. Etwas an Eddie erinnert Willie an polierte Kriegswaffen. Und Eddie sieht Willie durch die gleiche rosa Brille. In der Annahme, dass Willies viele blaue Flecken von Straßenprügeleien kommen und nicht von seinen Brüdern, zollt Eddie Willie tiefsten Respekt. Und Willie, der einen Freund braucht, setzt Eddie nicht ins Bild.
    Happy musste sich Eddies Respekt nie verdienen. Sie sind seit Kindesbeinen Freunde. Ihre Familien leben einander gegenüber in der gleichen Straße, ihre Väter sind dicke Kumpel. Meistens lacht Happy über Eddies schlechte Laune, denn er erinnert sich noch an den alten Eddie. Wer Eddie auslacht, läuft Gefahr, Ärger zu bekommen, ähnlich den Löwenbändigern im Straßenzirkus, die ihren Kopf zwischen die rosa triefenden Lefzen legen. Aber Eddie faucht Happy nie an. Happy ist so
glücklich
und sieht so verdammt gut aus, dass man ihm nur schwer böse sein kann.
    Manche sagen, Happy sei schon glücklich zur Welt gekommen. Andere sagen, er sei wegen seines Aussehens so glücklich. Er sieht unerträglich gut aus. Fast schon ungerecht gut. Die meisten sind sich einig, dass ein Teil seiner ständigen Fröhlichkeit auf das finanzielle Polster seiner Familie zurückzuführen ist. Die Johnstons sind nicht reich, aber sie gehören zu den wenigen in Irish Town, die nicht auf Messers Schneide leben. Happys Vater wurde vor einigen Jahren von einer Straßenbahn angefahren, und die Familie bekam eine Abfindung. Und sie war schlau genug, ihren Geldregen nicht auf eine der Banken zu bringen, die zu Hunderten pleitegingen.
    Daddo fragt Willie nach seinen neuen Freunden. Er kennt Happys Stimme von der Straße. Er sagt, sie klinge, als sehe Happy gut aus.
    Und ob, sagt Willie. Er hat schwarzes Haar und schwarze Augen, und die Mädchen in der Schule lieben ihn alle.
    Daddo kichert. Gut für ihn. Was würde ich dafür geben! Und der Wilson-Junge?
    Strohblondes Haar. Blaue Augen. Prügelt sich gern. Und manchmal klaut er.
    Sei vorsichtig, Willie Boy. Das klingt, als hätte

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